SENDETERMIN Sa., 25.05.19 | 23:50 Uhr | Das Erste

Europa wählen

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Pfarrer Gereon Alter: Europa wählen | Bild: WDR

Ein paar Stunden noch. Dann steht sie an. Die Frage: Gehe ich zur Wahl oder gehe ich nicht? Und wenn ja, wen wähle ich?

Meine Entscheidung ist bereits kurz nach Ostern gefallen. Ich hatte ein paar Tage frei und bin mit dem Fahrrad durch Frankreich gefahren. Durch die Picardie. Genauer: Über die Schlachtfelder an der Somme. Da hat die verlustreichste Schlacht des Ersten Weltkriegs getobt. Über eine Million Menschen haben allein in dieser Schlacht ihr Leben gelassen. Unvorstellbar! Ich bin mit meinem Rad durch ein kleines Waldstück gefahren, in dem binnen weniger Stunden mehr als 3.000 Menschen gestorben sind.

Den Franzosen und Briten ist dieser schreckliche Krieg bis heute präsent. Sie besuchen die Stätten des Grauens immer wieder mit der Familie, der Schulklasse, der Jugendgruppe. In Deutschland dagegen gilt er als der "vergessene Krieg" – trotz der Jubiläumsjahre, die gerade erst hinter uns liegen.

Dabei ist das, was diesen Krieg ausgelöst hat, brandaktuell. Denn es ging um das Kräfteverhältnis in Europa. Es ging um die Frage, wie sich die einzelnen Nationalstaaten zueinander verhalten. Es gab starke nationalistische Tendenzen. Es gab das, was wir heute "Populismus" nennen: einfache Antworten auf komplexe Fragen. Man berief sich auf das "christliche Abendland" und schrieb "Gott mit uns" auf die Koppelschlösser der Soldaten – nicht nur bei den Deutschen. Und: es gab die Vorstellung, den anderen mal einen Denkzettel verpassen zu können. „Wir sind Weihnachten zurück“, waren die deutschen Truppen überzeugt. Es den andern "nur mal kurz" zeigen. Das alles hat eine der größten Tragödien der Menschheitsgeschichte heraufbeschworen.

Mir ist in den Tagen nach Ostern dreierlei klar geworden. Erstens: Ich gehe wählen. Egal wie schlecht das Wetter ist oder wie müde ich morgen bin. Denn die Zukunft Europas ist mir nicht egal. Ich will für ein gutes Miteinander der verschiedenen Nationen, Kulturen und Religionen eintreten und mit meinem kleinen Kreuz ein Zeichen dafür setzen.

Das Zweite: Ich setze mein Kreuz nicht gegen etwas, sondern für etwas. Der Wahlakt ist für mich nicht ein Akt des Protestes. Dafür gibt es andere Möglichkeiten. Wählen gehen, das heißt für mich: einer Grundüberzeugung Ausdruck geben; die Partei wählen, mit deren

Werten ich am meisten übereinstimme. Und nicht: es den anderen Parteien mal zeigen wollen. "Denkzettel-Wahlen" haben noch nie etwas Gutes gebracht. Sie geben einem vielleicht für einen Moment das Gefühl von Stärke und Überlegenheit. Aber sie sind keine Antwort auf die komplexen Herausforderungen, vor denen wir stehen. Die wählen, die meine Grundüberzeugung am besten vertreten.

Und das Dritte: Ich bin mir bewusst, dass ich als Christ eine besondere Verantwortung für Europa trage. Nicht in dem Sinne, dass ich das christliche Abendland gegen andere zu verteidigen hätte; sondern in dem Sinne, dass mich mein Glaube drängt, für ein friedliches und solidarisches Europa einzutreten. Für ein Europa, das im anderen nicht zuerst eine Bedrohung sieht, sondern eine mögliche  Bereicherung. Für ein Europa, dass die Schwächsten nicht aus dem Blick verliert. Und vor allem: Für ein Europa, in dem auch in den nächsten 70 Jahren noch Frieden herrscht. Dem will ich meine Stimme geben. Einem vielfältigen, solidarischen und friedlichen Europa.

Sendetermin

Sa., 25.05.19 | 23:50 Uhr
Das Erste

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Westdeutscher Rundfunk
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