So., 04.05.25 | 18:30 Uhr
Das Erste
Taiwan: Wie riskant ist der Atomausstieg?
Badewetter das ganze Jahr über. Und Atomstrom ebenso. Seit 40 Jahren thront das Atomkraftwerk Ma‘anshan über diesem Strand im Süden Taiwans. Die Gegend ist ansonsten bekannt für unberührte Natur und tropisches Klima. In der Nachbarschaft zur Kleinstadt Hengchun mit ihren etwa 30.000 Einwohnern. So leicht kann sie nichts aus der Ruhe bringen. Hier in der Provinz schlagen die Uhren gefühlt langsamer. Landwirtschaft in Reichweite des Atomkraftwerks. Das nehmen die meisten so hin, aber nicht alle haben sich daran gewöhnt. Wenn sie die Saat auf den Feldern ausbringen, dann ist Landwirt Chang Ching-Wen mit den Gedanken nicht nur bei der künftigen Ernte.
Chang verfolgt aufmerksam die Diskussion um das benachbarte Kraftwerk. Als Bauer fühlt er sich verantwortlich dafür, dass die Böden in der Gegend unbelastet bleiben. Während auf der Insel über die Verlängerung der Laufzeit von Atomanlagen gestritten wird. "Natürlich mache ich mir Sorgen. Wir haben in der Vergangenheit gefordert, dass das Grundwasser untersucht werden soll. Aber das Kraftwerk hat uns die Ergebnisse nicht mitgeteilt. Wir verstehen bis heute nicht, warum sie uns die nicht gezeigt haben", erzählt der Landwirt.
Für den Ernstfall gerüstet sein
Der ehemalige Berufssoldat Chang will eine Bio-Landwirtschaft aufbauen. Gästen führt er gerne vor, wie das funktioniert. Aber ökologisch Wirtschaften während nebenan die Brennstäbe strahlen, das bleibt eine Herausforderung. Wenn sich Chang mit anderen Kleinbauern aus der Gegend trifft, dann geht es um gesunde Ernährung und auch um den einen Nachbarn, der hier nicht am Tisch sitzt. Den Stromkonzern Taipower. "Der Wind weht hier manchmal richtig stark. Bis zum Kraftwerk sind es gerade einmal 500 Meter. Wie schnell wäre bei einem Unfall die Strahlung wohl bei uns?", fragt sich Chang.

Der letzte Standort, an dem Taiwan noch Atomstrom produziert. Am 17. Mai läuft auch hier die Betriebsgenehmigung aus. Die Regierung investiert stattdessen in erneuerbare Energieträger. Große Windkraftanlagen entstehen im Küstenmeer. Doch Lieferprobleme erschweren den Ausbau. Der Parlamentsabgeordnete Ko Ju-Chun von Taiwans größter Oppositionspartei Kuomintang zeigt sich gerne technologieoffen. Aber nicht nur deshalb traut er der Atomkraft noch viel zu. Hinzu kommt die Bedrohung Taiwans durch die Volksrepublik China: "Ohne Strom wären wir nicht in der Lage, uns zu verteidigen. Taiwan muss im Ernstfall ausreichend lange durchhalten, bis andere Staaten zu Hilfe kommen. Wenn der Strom aber nur für 10 bis 14 Tage reicht, könnte das Taiwan noch unsicherer machen und das Land viel schneller in eine kritische Lage bringen."
Taiwan, ein High-Tech-Standort. Die hochmoderne Mikrochip-Industrie weltweit führend. Ihr Energiehunger geradezu unstillbar. Die Stromversorgung hängt größtenteils von Kohle- und Gaslieferungen aus dem Ausland ab. "Ausgerechnet in Taiwan, wo wir kaum eigene Energiequellen haben, sollen wir auf die Kernenergie verzichten? Ich denke, der vollständige Atomausstieg ist eine Position aus der Vergangenheit", sagt Ko Ju-Chun.
Massenproteste gegen die Atomkraft erlebte Taiwan in den Jahren nach dem Reaktorunfall im japanischen Fukushima. Nach und nach nahm die Regierung die Atomkraftwerke vom Netz. Die Erdbebengefahr spielte dabei eine zentrale Rolle. Die bekannte Atomkraftgegnerin Tsui Su-Hsin lehnt eine Gesetzesinitiative der Opposition für eine mögliche Laufzeitverlängerung von Reaktoren ab: "Schauen wir uns den Krieg in der Ukraine an, dann sehen wir, dass Atomkraftwerke im Verteidigungsfall keine Hilfe sind. Im Gegenteil: Im Kriegsfall muss man sich Sorgen machen, dass es zu Störfällen kommt oder die Kühlung ausfällt – was noch größere Probleme verursachen kann."
Auch bei Atomkraft braucht Taiwan Lieferungen aus dem Ausland
Militärkenner gehen nicht von einem unmittelbar bevorstehenden Angriff Chinas auf Taiwan aus. Doch die Volksrepublik sendet mit ihren Manövern immer bedrohlichere Signale. China betrachtet Taiwan als eigenen Landesteil und will den Anschluss notfalls mit Gewalt herbeiführen. Peking könnte Taiwan von Kohle- und Gaslieferungen abschneiden. Doch auch die Lieferwege der Atomindustrie sind angreifbar. Die Expertin Lu Tsai-Ying hat das für ein staatlich finanziertes Forschungsinstitut untersucht: "Es stellt sich die Frage, ob vor einer möglichen Krise noch neue Brennstäbe beschafft werden können. Nur dann könnten die Atomkraftwerke weiterlaufen – und erst dann hätten sie im Vergleich zu Gas oder Kohle den Vorteil einer längeren Nutzung."
Ein Kinderspiel ist der Betrieb von Atomkraftwerken nicht. Auch wenn das Besucherzentrum am Standort Maanshan den Eindruck vermittelt. Brennelemente muss Taiwan ebenfalls aus dem Ausland einführen. Und für die abgebrannten Stäbe muss es ausreichend Lagerkapazitäten geben. Doch mit der Atomkraft in Taiwan geht es schon länger bergab. Die Lager an den Kraftwerken sind fast voll. Ein Endlagerstandort existiert nicht. Kaum Platz für neue Brennstäbe. "Wenn man den Zeitaufwand, den Aufbau neuer Lagerkapazitäten für Brennstäbe und auch die finanziellen Aspekte berücksichtigt, wäre es für Taiwan extrem schwierig, diesen Weg kurzfristig einzuschlagen", sagt Lu Tsai-Ying.
Auf dem Hof von Bauer Chang sorgen sie sich mehr wegen der Risiken der Atomkraft. Auch bei einem Rückbau des benachbarten Kraftwerks. "Am Ende zählt doch nur eines: Sicherheit, Sicherheit und nochmals Sicherheit. Wenn sie nicht gewährleistet ist, dann ist es völlig egal, ob Ihr das Kraftwerk weiterlaufen lasst oder stilllegt – ich hätte in beiden Fällen große Angst", erzählt der Landwirt.
Nach der Stilllegung wird das radioaktive Material wohl noch lange vor Ort bleiben. Und eine Neuauflage der Atomkraft will auch die Regierung Taiwans nicht für alle Zeiten ausschließen.
Autor: Ulrich Mendgen / ARD Tokio
Stand: 04.05.2025 22:08 Uhr
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