So., 21.04.24 | 23:55 Uhr
Das Erste
Denis Scheck kommentiert die Top Ten Belletristik
Platz 10: Elizabeth Strout: "Am Meer"
Lucy Barton kommt nach Jahrzehnten wieder mit ihrem Ex-Mann zusammen. Und weil der Parasitologe ist, sieht er früher die Folgen der Pandemie in Manhattan voraus und veranlasst Lucy, mit ihm in ein Landhaus nach Maine zu ziehen und dort den Lockdown auszusitzen. Wie Strout ihre Ich-Erzählerin in scheinbar lockerem Parlando einen dichten Teppich aus von enormer Menschenkenntnis geprägten Alltagsbeobachtungen in einem zutiefst gespaltenen Land knüpfen läßt, ist ganz große Erzählkunst.
Platz 9: Ingrid Noll: "Gruß aus der Küche"
Die Zutaten sind alle da in diesem Roman über Liebesnöte aller Art in einem vegetarischen Restaurant. Auch hat mich Ingrid Nolls souveräner Umgang mit Jugendsprache beeindruckt. Aber leider hinterläßt "Gruß aus der Küche" einen faden Nachgeschmack, gerade so wie ich mir die Gemüseaufläufe der Köchin Irma vorstelle: zu wenig Salz, ohne Biss, es fehlt an Würze.
Platz 8: Gabriel Garcia Márquez: "Wir sehen uns im August"
Ohne den Verrat an Kafkas letzten Willen, alles zu vernichten, hätten wir neun Zehntel von Kafkas Werk nie kennengelernt. Die Entscheidung der Erben von Márquez, dieses schwache unabgeschlossene und nicht fertig geschrieben Werk aus dem Nachlaß zu veröffentlichen, ist dennoch ein Fehler. Dies ist keine Ruine eines Romans, dies ist ein Kadaver.
Platz 7: Rebecca Yarros: "Iron Flame: Flammengeküsst"
Eine Art "Topgun" mit Drachen und "Shades-of-Grey"-Elementen. Yarros hat offenbar zu viel "Game of Thrones" gesehen und ) ist auf die Idee des "Genre fucking" im wortwörtlichsten Sinn verfallen. Zitat: "Er schiebt sich diese ersten engen Zentimeter in mich hinein und das Gefühl lässt mich aufkeuchen. (…) Der letzte Rest seiner Selbstbeherrschung entgleitet ihm und er nimmt mich ganz und gar mit einem festen, harten Stoß." Das Anstößige dieser militaristischen Drachen-Flugschau liegt nicht in ihren Softporno-Elementen; das Anstößige ist ihre den stärksten Drachen umhauende intellektuelle Ödnis.
Platz 6: Carissa Broadbent: "The Serpent and the Wings of Night"
Genauso doof, genauso phantasielos, genauso niederschmetternd in längst überwunden geglaubten Geschlechterklischees gefangen: der Auftakt zu einer weiteren US-amerikanischen Plastik-Fantasy um konkurrierende Vampir-Königreiche, tödliche Turniere und menschliche Adoptivtöchter. Romantasy ist in den 2020ern, was der Heimatkrimi in den 2010ern war: Hirnpest in Buchform.
Platz 5: Stephan Schäfer: "25 letzte Sommer"
Gestresster Manager trifft Kartoffelbauer und findet in den Gesprächen mit ihm Sinn und einen Freund fürs Leben. Mit Literatur hat das wenig zu tun, eher mit Lebenshilfe. Aber selbst dazu ist es schlicht zu oberflächlich. Weniger ein Roman also als ein weiterer Beleg für die Existenz der Banalität des Blöden.
Platz 4: Trude Teige: "Und Großvater atmete mit den Wellen"
Eine Liebesgeschichte über einen Norweger, der 1943 auf einem Handelsschiff im Indischen Ozean durch einen Torpedotreffer versenkt wird und sich auf Java aller Unwahrscheinlichkeit zum Trotz in eine dort passenderweise vorhandene norwegische Krankenschwester verliebt. Weil Trude Teige diese Geschichte dann aber mit der Schilderung der himmelschreienden Zustände in den japanischen Arbeitslagern kombiniert, erleidet nicht nur der Protagonist, sondern auch der Roman Schiffbruch im Meer des Kitsches.
Platz 3: Martin Suter: "Allmen und Herr Weynfeldt"
Einen Durchschnittshelden Allmen zu nennen, also den Jedermann englisch "all men", ist schon ziemlich schlau. Und das gilt auch für diesen behäbigen, aber intelligenten Serienkrimi um eine sich bildende Männerfreundschaft und einen verschwundenen Picasso, von dem bis Ende zum offen bleibt, ob er nun echt ist oder gefälscht.
Platz 2: Rebecca Ross: "Divine Rivals"
Nach 234 Jahren steigen die einst von den Sterblichen bezwungenen Götter aus ihren Gräbern und fangen einen neuen Krieg an, zu dem sie auch uns Menschen einberufen. Dies die Ausgangssituation dieser Romantasy, in der es außer um Herzschmerz um die Konkurrenz zweier angehender Journalisten geht, um alkoholsüchtige Mütter, Brüder an der Front und magische Schreibmaschinen. Liest sich wie ein alberner Traum von Barbie über den Ersten Weltkrieg: ein Grauen!
Platz 1: Jussi Adler-Olsen: "Verraten"
Die gute Nachricht vorab: Dies ist angeblich der letzte Roman um Carl Mørck vom Sonderdezernat Q. Eine krude Story um Polizeikorruption und einen Koffer voller Drogen und Geld auf Carl Mørcks Dachboden, wie immer verfasst in lupenreiner Steinzeitprosa. Zitat Seite 552: "Schweinehund nennst du mich also", sagte der Mann und lachte. Carl nahm Abschied von der Welt." Mir ein Rätsel, warum erwachsene Menschen sich mit solcher Sprache quälen lassen.
Stand: 21.04.2024 12:22 Uhr
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