Auf Kosten der Natur: Abholzung in Schutzgebieten

Wenn es um den Naturschutz geht, dann ist der Förster sein eigener Kontrolleur. Er bestimmt nicht nur, ob und wo gefällt wird, sondern bewertet gleichzeitig, ob es sich um einen erheblichen Eingriff in die Natur handelt oder nicht. Und das selbst in europäischen Schutzgebieten, wo durch das Fällen von Bäumen manchmal ganze Lebensräume verschwinden können. An vielen Stellen bundesweit sieht man, dass Schutzgebiete kleiner oder ganz kaputt gemacht wurden.

Text des Beitrags:

Das war einmal ein Wald. Grumbach in Thüringen - direkt an der bayerischen Grenze. Abgeholzt. Daliah Bothner, die Grumbacher Bürgermeisterin, nimmt das alles immer noch mit. Früher ging sie hier jeden Tag spazieren.

Daliah Bothner, parteilos, Ortsteilbürgermeisterin Grumbach-Wurzbach:
„Es war ein schattiger, schöner, grüner Wald. Es war eigentlich alles da, was man sich von einem Wald so wünscht. Und jetzt ist davon nichts übrig geblieben.“

Das Gebiet ist kein normaler Wald. Wir sind in einem Vogelschutzgebiet europäischen Rangs - Teil eines großen Netzwerks aus Vogelschutz- und FFH-Gebieten. Flora, Fauna, Habitat. Zusammen Natura 2000. Ein Viertel des deutschen Waldes gehört dazu. 

Eingerichtet in den 90er Jahren sollen die Gebiete Refugien sein, inmitten des industriellen Europas, auch für bedrohte Tiere, die laut Landesumweltamt auch in Grumbach beobachtet wurden. Der Grauspecht, das Haselhuhn. Beide stehen auf der roten Liste gefährdeter Arten.

Bundesforst sieht keine erheblichen Beeinträchtigungen

Früher sah die Bürgermeisterin rund um Grumbach jeden Tag seltene Vögel, erzählt sie. Jetzt sehe sie hier fast nichts mehr - seit vielen Monaten. 

Daliah Bothner
Daliah Bothner | Bild: SWR

Daliah Bothner, parteilos, Ortsteilbürgermeisterin Grumbach-Wurzbach:
„Man fragt sich: Wofür das Vogelschutzgebiet, wenn es, ich will jetzt sagen, misshandelter wird als ein Wirtschaftswald? Wenn man das sieht hier: Zerstörung, so weit das Auge reicht.“

Das Gebiet gehört dem deutschen Staat, wird vom Bundesforst bewirtschaftet. Die Behörde begründet die Maßnahmen mit dem Borkenkäfer, man habe vorsorglich aber auch gesunde Bäume gefällt. Große Auswirkungen auf die Vogelwelt sieht der Bundesforst nicht.

Bundesforst:
„Erhebliche Beeinträchtigungen der Erhaltungsziele des Natura2000-Gebiets können ausgeschlossen werden.“

Brutstätten, sofern vorhanden, habe man außerdem stehen lassen - in denen die Vögel sich in Ruhe vermehren sollen, während die Welt um sie herum verschwunden ist.

Wir legen den Fall Professor Pierre Ibisch vor. Der Waldbiologe trat unter anderem als Sachverständiger im Bundestag auf. Er sieht das Vogelschutzgebiet in Grumbach auf Jahre zerstört - die Argumente des Bundesforsts kann er nicht nachvollziehen.

Prof. Pierre Ibisch
Prof. Pierre Ibisch | Bild: SWR

Prof. Pierre Ibisch, Hochschule für nachhaltige Entwicklung Eberswalde:
„Ich glaube, es ist eine sehr rhetorische Frage, nicht, sich zu überlegen: Wird dann ein Vogel auf einem Baum sitzen werden, während rund um ihn herum der Wald abgerissen wird? (…) Und selbstverständlich ist es für Waldarten eine erhebliche Verschlechterung, wenn die Bäume weg sind. Letztlich geht es ja um einen Lebensraum, einen potenziellen Lebensraum in Zukunft, und insofern ist das nicht hinnehmbar.“

Mehr als 300 Eingriffe seit 2022

Denn eigentlich sind die Regeln in Schutzgebieten eindeutig: festgelegt im Bundesnaturschutzgesetz und in der europäischen FFH-Richtlinie. Störungen und erhebliche Beeinträchtigungen sind demnach eigentlich unzulässig. Forstwirtschaft, auch Borkenkäfermaßnahmen, sind zwar grundsätzlich erlaubt, aber nur, wenn es für Arten und Lebensraum zu keiner Verschlechterung kommt.

Wie oft wird in Waldschutzgebiete eingegriffen? REPORT MAINZ hat alle unteren Naturschutzbehörden angefragt. Die meisten antworten nicht. Trotzdem kommen wir auf mindestens 300 Fälle seit Anfang 2022.

Ein weiteres Beispiel: Wir sind in Koblenz - der Stadtwald. Hier liegt ebenfalls ein FFH- und Vogelschutzgebiet. Die Bechsteinfledermaus hat hier ihr Zuhause. Sie gilt ebenfalls als stark gefährdet. Rund 100 Bäume wurden hier im Frühjahr gefällt. Die Spuren sieht man immer noch.

Unterwegs mit Volker Ziesling und seinen Mitstreitern. Ziesling war bis vor einem Jahr leitender Direktor bei der oberen Forstbehörde in Rheinland-Pfalz. Jetzt ist er Chef einer Bürgerinitiative - und ärgert sich über seine alten Kollegen.

Volker Ziesling
Volker Ziesling | Bild: SWR

Volker Ziesling, Bürgerinitiative „Waldwende jetzt“:
„Die ursprüngliche Zielsetzung der Schutzgebiete geht zunehmend verloren. Das wird dazu führen, dass wir in Mitteleuropa noch weitere Arten verlieren werden.“

Auch in Koblenz? Jeder Brutplatz, der wegfalle, mache es den Arten schwerer, zu überleben, sagt Ziesling. Und hier seien einige weggefallen. Die Spuren am Boden: noch immer zu sehen. Bäume mit Höhlen, einst potentielle Brutplätze.

Warum wurden solche Bäume gefällt? Man habe im Wald Lichtinseln schaffen wollen, schreibt die Stadt Koblenz. Insgesamt sehe man dadurch aber keine erhebliche Verschlechterung des Schutzgebietes.

Stadt Koblenz:
„Leider können nicht alle Bäume vollumfänglich vor einer Fällmaßnahme begutachtet werden. So kommt es leider hin und wieder vor, dass auch Bäume mit Habitaten (Spechtlöchern) gefällt werden“

Die Aussage einer kommunalen Forstbehörde, die den potentiellen Lebensraum einer geschützten Art einfach mal übersieht.

Forstämter werden kaum kontrolliert

Wie wird entschieden, ob ein Eingriff in einem Schutzgebiet erheblich schadet oder nicht? Dafür gibt es eigentlich ein zweistufiges Prüfverfahren:

Stufe 1: die Erheblichkeitsabschätzung. Hier muss ausgeschlossen werden, dass der Eingriff dem Schutzgebiet erheblich schadet. Kann man das nicht, kommt Stufe 2 - die Verträglichkeitsprüfung, zusammen mit der Naturschutzbehörde. Das Problem ist: Über Stufe 1 entscheidet der Förster - und zwar, in der Regel, ganz allein. 

Und so sieht die Prüfung aus, Beispiel Thüringen: ein zweiseitiges Formular. Ein Kreuz reicht, dann steht dem Baumfall nichts im Wege. Und das oft ohne, dass die zuständigen Naturschutzbehörden davon etwas mitbekommen, erzählt uns ein Abteilungsleiter eines Landesforstbetriebs. Er will anonym bleiben.

Abteilungsleiter eines Landesforstbetriebs (Stimme nachgesprochen):
„Das erfahren sie nur, wenn sie sich bei den Förstern aktiv melden, sonst nicht. Die kommen aber gar nicht dazu, wegen absoluter personeller Unterbesetzung.“

Mit anderen Worten: Die Forstbehörden können machen, was sie wollen.

Zwiespalt zwischen Gesetz und wirtschaftlichen Zwängen

Wir sind bei Klaus Pukall - selbst gelernter Forstwirt. Heute arbeitet er an der TU München. Er sagt: Die meisten Forstbehörden seien heutzutage wie Wirtschaftsbetriebe organisiert. Und genau das sei auch ein Teil des Problems.

Klaus Pukall
Klaus Pukall | Bild: SWR

Klaus Pukall, Lehrstuhl für Wald- und Umweltpolitik, TU München:
„Es wird gesagt: Okay, wir brauchen jetzt so und so viel Festmeter Holz. Und auf der anderen Seite ist die Forderung da: Setzt bitte die FFH-Richtlinie vorbildlich um. Da merkt man schon, dass sehr häufig der Konflikt sehr häufig auf den einzelnen Förster herunter delegiert wird, der das mehr oder minder gut löst.“

Auch in Grumbach? Der Bundesforst betont, es sei nie um wirtschaftliche Interessen gegangen. Und doch finden wir bei unserem Dreh auch das hier: sorgfältig aufgereihte Baumstämme, zum Teil zum Verkauf markiert, zu erkennen an den blauen Blättchen.

Fassen wir das nochmal zusammen: problematische Baumfällungen, betreut von Förstern, die sich laut Forstexperten im Zweifel zwischen Gesetz und wirtschaftlichen Zwängen entscheiden müssen - oft ohne jede Kontrolle.

Bundesregierung sieht keinen Handlungsbedarf

Ein Fall für die Bundesregierung? Immerhin stehen zwei Grüne an der Spitze von Umwelt- und Landwirtschaftsministerium. Doch dort sieht man kein wirkliches Problem.  

Bundesregierung:
„Nach unserem Kenntnisstand ist die Umsetzung bestehender gesetzlicher Regelungen in Natura 2000-Waldgebieten (…) grundsätzlich nicht zu beanstanden.“

Und was ist der Kenntnisstand? Die Ministerien teilen mit, ihnen lägen keine Zahlen zu Eingriffen in Natura2000-Waldgebieten vor. Unsere Experten sehen hingegen dringenden Handlungsbedarf - angesichts des sich immer weiter verschlechternden Zustands der Natur. 

Prof. Pierre Ibisch, Hochschule für nachhaltige Entwicklung Eberswalde:
„Das macht schon betroffen, dass wir trotz entsprechender auch internationaler Strategien und Konventionen hier so gar keine richtigen Schritte vorwärts machen.“

Klaus Pukall, Lehrstuhl für Wald- und Umweltpolitik, TU München:
„Da brauche ich also wirklich eine klare politische Linie, die sagt: Okay, FFH-Gebiete sind vorbildlich zu bewirtschaften. Im Staatswald stehen Naturschutzziele im Vordergrund.“

Daliah Bothner, die Grumbacher Bürgermeisterin, hat jedenfalls Strafanzeige erstattet, gegen den Förster, das Fuhrunternehmen, den Bundesforst - wegen Verstoßes gegen das Bundesnaturschutzgesetz.

Stand: 22.11.2023 14:48 Uhr