Lieferando: werden Essenzusteller fair entlohnt?

Deutschlands Marktführer für Essenslieferungen Lieferando setzt auf fragwürdige Bonusmodelle, zeigen Recherchen des ARD-Politikmagazins REPORT MAINZ. So bekommen die Fahrer den gesetzlichen Mindestlohn und obendrauf Bonuszahlungen. Doch Gewerkschaften und Fahrer kritisieren, dass die Bonuszahlungen kaum beeinflussbar und damit ungerecht seien.

Außerdem ficht Lieferando Betriebsratswahlen in mehreren Städten an. Arbeitsrechtler kritisieren vor diesem Hintergrund veraltete Gesetze, die der modernen Arbeitswelt nicht mehr gerecht würden. Was sagen Lieferando und Bundearbeitsminister Heil zu den Recherchen? 

 
Christoph auf dem Weg … zu seinem ersten Kunden. Es ist Mittagszeit. Der Beginn einer langen Schicht. 

Christoph, Lieferando-Kurier:
„Hallo Lieferando…“ 

Und doch, nach einer halben Stunde und zwei Stockwerken schon, ist Christoph das erste Mal aus der Puste. 

Christoph, Lieferando-Kurier, in orangener Arbeitskleidung
Christoph (Name geändert), Lieferando-Kurier

Christoph, Lieferando-Kurier: 
„Es ist warm, die Arbeitsklamotten, der schwere Rucksack. Manchmal nimmt man zwei Stufen auf einmal, dann ist man ein bisschen schneller oben und so kann man ein bisschen Zeit aufholen.“ 

… „Ok. Dann ab zum nächsten“ 

Keine Zeit verlieren, wie so oft in Christophs Alltag - als Fahrradkurier für Lieferando. Er möchte nicht, dass wir seinen Namen nennen. Die Schicht heute wird Christoph einmal quer durch seine Heimatstadt in Norddeutschland führen. 60 Kilometer Strampeln durch den Straßenverkehr. Hasten durch die Treppenhäuser.  

Christoph, Lieferando-Kurier: 
„Ich merke die Belastung der Arbeit an Tagen, an denen ich nicht arbeiten gehe: Von den Schmerzen bis zu manchmal sogar dem konstanten Gefühl des Rucksacks auf dem Rücken. Die Arbeit begleitet mich, wohin ich gehe.“    

 Lieferando zahlt Auftragsbonus 


Und für diese Strapazen kriegt Christoph Mindestlohn, kommt so bei 35 Stunden in der Woche auf monatlich etwa 1700 Euro - brutto. Obendrauf kommen Bonuszahlungen. Bei denen fällt die Anzahl der Lieferungen am meisten ins Gewicht. 

Doch wie hoch der Bonus ausfalle, sei Glücksache, könne er kaum beeinflussen. Es hänge etwa von der Länge der Lieferstrecken ab und der Anzahl der Aufträge. Wir sind dabei, als er mehrfach wartet, bis ihm die App eine neue Bestellung zuweist. Und so heißt es: Nichts tun, rumsitzen. Wie fühlt er sich dabei? 

 Christoph, Lieferando-Kurier: 
„Das hier sind jetzt gerade verlorene Aufträge verlorenes Geld und verlorener Arbeitswille… Was soll ich da noch sagen… es nervt. Es ist verlorenes Geld (App klingelt)“  

… Erst nach rund 30 Minuten geht es für Christoph weiter. 

Auch wegen Situationen wie dieser kriegt er zum Beispiel in einem Monat etwa 350 Euro Auftragsbonus, in einem anderen nur 240. Schwankungen also um bis zu rund 100 Euro – bei gleicher Arbeitszeit.  

Christoph, Lieferando-Kurier: 
„Es ist der Unterschied, einmal mehr im Monat mehr warm essen zu können. Es ist der Unterschied einmal mehr im Monat, mit der Familie etwas unternehmen zu können.“ 

 Eine App, die also beeinflusst, was Christoph verdient… Und das bei einem Unternehmen, das sich stolz als Marktführer präsentiert. 

Bundesarbeitsminister Heil: “Für sozialen Fortschritt sorgen” 


Auch Bundesarbeitsminister Hubertus Heil hat sich zu Lieferdiensten wie Lieferando schon oft geäußert und zu den Herausforderungen der Digitalisierung.  

Hubertus Heil, Bundesarbeitsminister, 19 Juni 2018: 
„Dafür sorgen, dass aus diesem technischen Fortschritt auch sozialer Fortschritt für die Menschen wird.“ 

 Sozialer Fortschritt, von dem Christoph nichts spürt. Dank eines Bonus, den er kaum beeinflussen könne … Was sagt Lieferando dazu? 

Das Unternehmen schreibt uns, Kuriere verdienten im Schnitt „mehr als 14 Euro pro Stunde“. Mit einem „Grundlohn von 12 Euro“ hätten sie ein „planbares Grundgehalt“. Der Bonus sei ein „zusätzlicher Anreiz“. Wegen der Zuweisung von Lieferungen könnten sich Fahrer außerdem jederzeit an Mitarbeiter wenden. Doch auch dann bekomme man häufig zeitnah keinen neuen Auftrag, sagt Christoph.  

 Lohndaten ausgewertet 


Uns werden hunderte Seiten interner Unterlagen von Lieferando zugespielt. Lohndaten von Fahrern aus ganz Deutschland über ein Jahr. Tagelang werten wir sie aus, haben sie auf Plausibilität geprüft. Bei vielen Fahrern gibt es – bei gleicher Stundenzahl – enorme Schwankungen der Bonuszahlungen – um 100, 150, teils um 200 Euro im Monat. 

Die Recherchen legen wir Mark Baumeister vor, von der Gewerkschaft NGG. Seiner Einschätzung nach zeigen die Daten, dass das Bonussystem an sich ungerecht sei. 

Mark Baumeister, Gewerkschaft „Nahrung Genuss Gaststätten“
Mark Baumeister, Gewerkschaft „Nahrung Genuss Gaststätten“ | Bild: SWR

Mark Baumeister, Gewerkschaft „Nahrung Genuss Gaststätten“: 
„Lieferando verlagert das komplette Geschäftsrisiko: Das Bestellverhalten, wie ist das Wetter draußen, komplett auf die Beschäftigten, aber in einem Mindestlohnbereich von Boni-Zahlungen zu reden und Leute mit Boni-Zahlungen abzuspeisen, ist eine Sauerei auf dem Rücken der Menschen.“ 

Hinzu kommt: Gewerkschaft und Kuriere sehen in dem Bonus einen Anreiz, schneller und riskant zu fahren … Auch Christoph. 

Christoph, Lieferando-Kurier:  
„Wir haben alle schon - und ich persönlich auch - das Geld über meine Sicherheit gestellt. Der Druck steht uns immer im Nacken … und das sollte nicht so sein…“ 

Für LKW-Fahrer sind bestimmte Akkordlöhne aus diesem Grund sogar gesetzlich verboten, schon seit den 70er Jahren. Warum setzt Lieferando auf ein Bonusmodell?  
Das Unternehmen schreibt uns, die Kuriere bekämen regelmäßig Unterweisungen zum sicheren, verkehrsgerechten Fahren. Die Sicherheitsstandards würden unter anderem durch Arbeitsschutzbeauftragte überprüft. Das Gesetz gelte für das Fahrpersonal von Kraftfahrzeugen, die der und Güter- und Personenbeförderung dienen, nicht aber für Arbeitnehmer, die mit Fahrrädern oder einem PKW unterwegs sind. Also kein Problem? Die Einschätzung der Gewerkschaft: 

Mark Baumeister, Gewerkschaft „Nahrung Genuss Gaststätten“: 
„Lieferando nutzt hier Gesetzeslücken aus. Das Unternehmen bringt aus unserer Sicht die Beschäftigten in Gefahr, durch die falschen Anreize, schneller zu fahren, damit sie mehr erreichen.“ 

 Lieferando ficht Betriebsratswahlen an 


Wir sind in Aachen, wo für Lieferando mehr als 100 Kuriere im Einsatz sind, treffen dort Daniel Lavalle. Als derzeitiger Vorsitzender des örtlichen Lieferando-Betriebsrats sorgt er sich um deren Sicherheit, auch wegen des Bonussystems.  

Daniel Lavalle, Vorsitzender Lieferando-Betriebsrat Aachen
Daniel Lavalle, Vorsitzender Lieferando-Betriebsrat Aachen | Bild: SWR

Daniel Lavalle, Vorsitzender Lieferando-Betriebsrat Aachen: 
„Es frustriert mich sowohl als Fahrer, weil ich habe auch als Fahrer, bevor ich Betriebsrat war, schon darauf hingewiesen und bin immer gegen Mauern gelaufen. Man sieht halt, dass die Fahrer leiden. Aber man kann nicht eingreifen in vielen Dingen.“ 

Mehrmals im Monat beschwerten sich Fahrer bei ihm wegen des Bonussystems. 

Und Betriebsräte wie er sind für Unternehmen unbequem. Lieferando hat die Wahl des Betriebsrats in Aachen anfechten lassen, argumentiert unter anderem, Aachen sei kein eigener Betrieb. Denn das Liefergebiet werde vollständig aus der Zentrale in Berlin koordiniert und geleitet. Wäre also dieser Betriebsrat zuständig, 600 Kilometer entfernt? 

Daniel Lavalle, Vorsitzender Lieferando-Betriebsrat Aachen: 
„Die Entfernung von Berlin nach Aachen ist absurd, weil ein Betriebsrat, wenn er irgendeine Beschwerde bekommt oder ein Fahrer eine seine Besorgnis mitteilt, kann er sich gar kein Bild davon machen, weil der über einen Arbeitstag überhaupt braucht, um in Aachen anzukommen.“ 

 Mit ähnlichen Begründungen wie in Aachen ficht Lieferando derzeit die Wahl weiterer Betriebsräte an. Warum?  

Moderne Arbeitswelt, veraltete Gesetze? 


Das Unternehmen schreibt, man unterstütze die Gründung von Betriebsräten - allerdings „im Rahmen der gesetzlichen Regelungen“. Gesetze, die an die digitale Arbeitswelt angepasst werden müssten, um auch dort Mitbestimmung besser zu gewährleisten, sagt Arbeitsrechtlerin Johanna Wenckebach. Sie arbeitet für die Hans-Böckler-Stiftung und ist ehrenamtliche Richterin am Bundesarbeitsgericht.  

Prof. Johanna Wenckebach, Arbeitsrechtlerin
Prof. Johanna Wenckebach, Arbeitsrechtlerin | Bild: SWR

Prof. Johanna Wenckebach, Arbeitsrechtlerin: 
„Dieser Begriff des Betriebs im Betriebsverfassungsgesetz ist sehr alt und stammt aus einer Zeit, als es klar war, dass es ein Arbeitsort gibt, wo Menschen zusammen sind, wo es vielleicht ein Bürogebäude gibt, in dem Führungskräfte sitzen, wo Verwaltungseinheiten sitzen. Und wir haben jetzt Zeiten, in denen es eben Apps gibt, die Beschäftigte steuern, die Aufträge vergeben, sodass man überhaupt keine Führungs-Einheiten vor Ort mehr braucht. Effektive Interessensvertretung muss da sein, wo tatsächlich die Arbeit gemacht wird.“ 

Was sagt Hubertus Heil zu alldem? Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales schreibt uns: 

Zitat Bundesministerium für Arbeit und Soziales: 
„Das BMAS setzt sich für faire und angemessene Arbeits- und Tätigkeitsbedingungen auch in der Plattformökonomie ein.“ 

Außerdem verweist das Haus auf Verhandlungen zu Digitalen Plattformen auf EU-Ebene. Im Sommer wolle die Bundesregierung zudem ein „Tarifpaket“ vorlegen, um Tarifbindung zu stärken. 

Und was ist mit der Sicherheit der Kuriere durch Bonusmodelle? Und mit einzelnen lokalen Betriebsratswahlen, die von Lieferando angefochten werden? Hier sind offenbar keine Gesetzesänderungen geplant. 

Mark Baumeister, Gewerkschaft „Nahrung, Genuss, Gaststätten“:  
„Die Bundesregierung droht die Situation zu verschlafen. Sie müssen sich wirklich beeilen, sonst fährt ihnen die Lieferbranche auf und davon und den Beschäftigten wird es irgendwann noch schlimmer gehen als jetzt.“ 

Keine guten Aussichten also, für tausende Essenskuriere wie Christoph. 

Stand: 02.08.2023 15:01 Uhr