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Brasilien: Vom Drogenboss zum evangelikalen Missionar

PlayEin Mann im Rollstuhl umringt von jungen Männern.
Brasilien: Vom Drogenboss zum evangelikalen Missionar | Bild: NDR

Seine Frau betet jedes Mal für ihn, bevor Demétrio Martins aufbricht – als Wanderprediger in die gefährlichsten Viertel von Rio de Janeiro. Er selbst wurde dort geboren, lebte früher in einem der Slums das Leben eines Gangsters: "Leider habe auch ich schlimme Dinge getan. Wir haben getötet. Genau deshalb ist es heute mein Ziel, Drogenabhängige und Kriminelle zu bekehren."

Heute tritt Demétrio zum ersten Mal seit Beginn der Pandemie bei einem Gottesdienst auf. Das Viertel ist bitterarm. Während draußen Drogengangs mit automatischen Gewehren patrouillieren, bereitet sich Demétrio drinnen auf seine Predigt vor. Es ist eine der unzähligen Freikirchen in Rios Armenvierteln, die den Ex-Gangster eingeladen hat. "Wenn Du auf die schiefe Bahn gerätst, gibt es meist nur drei Optionen: Du wirst getötet, endest im Knast oder im Rollstuhl. Das ist heute meine Botschaft", sagt Demetrio Martins. Dann sollen diejenigen nach vorne kommen, die einen Freund oder Angehörigen haben, der Mitglied einer Drogengang ist. Kurz darauf steht der halbe Saal vor Demétrio. Das ist der Moment, in dem er von seiner Zeit als Gangster erzählt. "Was war das für ein Leben?! Ich hatte Geld und Macht – aber musste mich nachts immer irgendwo verstecken, weil ich nicht mal meinen Freunden vertrauen konnte."

Mit der Bibel auf dem Schoß durch Rios Armenviertel

Ein Mann im Interview
Demétrio Martins war Boss einer gewalttätigen Drogengang. | Bild: NDR

Ruhig geschlafen habe er als Gangster nie, erzählt Demétrio später bei sich zu Hause. Dabei hatte für ihn alles vielversprechend angefangen. Der Drogenhandel war für den Jungen aus der Favela die Chance zum sozialen Aufstieg: "Ich fing an, Drogen zu nehmen und wurde Teil des kriminellen Milieus. Später haben wir andere Typen überfallen. Ich stieg auf zu einem der Anführer der Favela 'Complexo Alemão.'" Am Ende kontrolliert Demetrio 25 Drogenumschlagplätze und wird die rechte Hand eines berüchtigten Drogenbosses.

Gefährlicher als die Rivalen im Milieu sind die Angriffe der Militärpolizei. Von einem solchem wird Demétrio eines Morgens überrascht. "Ich gehe eine steile Gasse entlang. Dann merke ich, dass ich in der Falle sitze. Plötzlich höre ich eine Schusssalve. Ich falle auf den Boden – bin unter Schock. Meine Bodyguards rennen irgendwohin." Seitdem ist Demétrio querschnittsgelähmt – und zieht Woche für Woche mit der Bibel auf dem Schoß durch Rios Armenviertel. Sein Ruf als ehemaliger Gangster, der zum Glauben gefunden hat, eilt ihm voraus.

Beten mit Handgranate am Gürtel

Zwei Männer beten für einen vor ihnen knieenden Mann.
Die Dealer vertrauen Demétrio, sie beten zusammen.  | Bild: NDR

Seine Lebensgeschichte berührt viele Menschen. Dabei trifft sich Demétrio auch mit den Dealern, die hier an jeder Ecke Drogen verkaufen. Sie vertrauen ihm – und beten gemeinsam. Mit der Handgranate am Gürtel. "Die Regierung müsste diesen Jugendlichen Perspektiven bieten. Damit sie nicht den einfachsten Weg gehen und dealen. So verlieren sie entweder ihre Freiheit oder ihr Leben", sagt Demetrio Martins.

Nur wenige schaffen den Ausstieg, so wie Demétrio, der jetzt Gangstern hilft, die Schluss machen wollen mit dem Leben in der Illegalität. Einer davon ist Wagner de Oliveira. Mit 15 besaß er seinen ersten Revolver: "Ich bin schnell aufgestiegen, hatte Führungspositionen inne und jede Menge Geld. Bis mich bei einer Schießerei eine Kugel streifte." Heute ist Wagner Vize-Präsident der Anwohnervereinigung. Die Waffen hat er gegen Kugelschreiber getauscht. Er hilft Nachbarn bei Formularen und Behördengängen. "Mein altes Leben hat mir nichts gebracht,  außer schlimmen Erinnerungen und Narben. Ich schlafe heute viel ruhiger als früher." Und er kämpft für sein Viertel. Mit Helfern hat er Abwasserkanäle ausgehoben. Eine Straße wollen sie demnächst asphaltieren.

Zurück beim Gottesdienst: Zum Schluss kümmert sich Demétrio noch um einen Dealer, der gesegnet werden möchte. Kirche und Koks – wie passt das zusammen? "Jeder muss selbst wissen, was er tut", sagt der Dealer. "Ich will mit den Drogen aufhören." Es wäre eine weitere Seele, die Pastor Demétrio rettet. Herausholt aus einem Milieu, das er selbst nur durch Glück überlebt hat.

Autor: Matthias Ebert, ARD-Studio Rio de Janeiro

Stand: 27.09.2020 20:23 Uhr

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