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Italien: Jahrelange Vergewaltigung – ein Dorf schaut weg

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Italien: Jahrelange Vergewaltigung – ein Dorf schaut weg | Bild: NDR

Melito di Porto Salvo, malerisch gelegen im Süden von Kalabrien. 12.000 Einwohner. Kontrolliert von der Mafia. Hier wird ein 13-jähriges Mädchen wohl über Jahre von sieben jungen Männern vergewaltigt. Wir nennen sie Lucia. Viele Bewohner sollen das gewusst und trotzdem geschwiegen haben. Wir kommen mit der Erzieherin des Kindergartens ins Gespräch. Wir wollen von ihr wissen, was sie über die Verbrechen weiß. "Ich verstehe sie nicht…", sagt sie nur. Der Bürgermeister Giuseppe Meduri verteidigt seine Gemeinde. Er beteuert, wie gut er die Eltern der kleinen Lucia kennt und schätzt. "Wenn alle davon gewusst hätten, dann müssen wir feststellen, dass der Staat versagt hat. Es ist nicht wahr, undenkbar und unvorstellbar, dass alle hier davon wussten", sagt er.

Jahreslanges Martyrium

Was ist passiert? Lucia ist 13 Jahre alt, als ihre erste kleine Liebelei mit einem jungen Mann aus dem Dorf endet. Eifersucht soll im Spiel gewesen sein. Daraufhin soll der Ex-Freund mit seinen Kumpels das Mädchen immer und immer wieder vergewaltigt haben. Unter den Tätern: der Sohn des örtlichen Mafia-Bosses und der Bruder eines Polizisten. Für Lucia beginnt ein jahrelanges Martyrium.

Von Mafia auferlegte Schweigepflicht

Wir treffen Staatsanwalt Calogero Gaetano Paci, der seit September 2015 in dieser Sache ermittelt. Das Mädchen habe minutiös aufgeschrieben, was sie wann, mit wem aushalten musste, erklärt er uns. "Und wenn dann eine Dimension wie in diesem Fall erreicht wird, das heißt: mehrere Leute, zu verschiedenen Zeiten, an mehreren Orten, teilweise unter gut durchdachten Umständen dieses Mädchen missbrauchen, dann kann das nicht völlig unbemerkt geblieben sein", sagt er. An die von der Mafia auferlegte Schweigepflicht "Omerta" halten sich viele. Auch in Melito, glaubt Staatsanwalt Paci. Er arbeitet seit 30 Jahren in Süditalien, stets im Kampf gegen die Mafia. Er weiß, welche psychische Macht die Kriminellen ausüben können.

Eine Lehrerin wird aktiv

Lucia traut sich im Sommer 2015 in einem Aufsatz für die Schule, über ihre Probleme zu schreiben. Die Lehrerin wird aktiv, informiert die Eltern. Anschließend gehen sie gemeinsam zur Polizei. Lucias Mutter soll bereits zu diesem Zeitpunkt alles gewusst, ihr aber nicht geglaubt haben. Der Vater hat all seinen Mut zusammengenommen und den Sohn des Mafia-Bosses aufgefordert, seine Tochter nicht mehr zu quälen – ohne Erfolg. Mehrmals die Woche – junge Männer in einem Auto mit einer Minderjährigen. Und davon will niemand etwas mitbekommen haben? Selbst jetzt, wo alles bekannt ist, erfolgt kein Aufschrei in dem Städtchen. Die Macht der Mafia scheint grenzenlos.

Die Angst vor der Mafia ist groß

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Die Macht der Mafia in dem kleinen Ort scheint grenzenlos. | Bild: NDR

"Ich habe davon noch nie was gehört", sagen die Leute in dem kleinen Ort. "Das kann überall passieren, in jedem Land auf der Erde." "Sie war die Tochter einer Freundin von mir. Eine anständige Familie. Aber so was passiert."

Die Reaktionen – für Claudio Cordova unbegreiflich. Der Journalist – selbst seit Jahren von der Mafia bedroht – kennt Orte mitten im Zentrum, wo Lucia misshandelt worden sein soll. Aber er weiß auch, die Angst vor der Mafia ist groß. "Familie Iamonte kontrolliert alles. Die Gemeindeverwaltung von Melito wurde bereits mehrmals aufgelöst, weil sie von der 'Ndrangheta und den Lamontes unterwandert wurde. Einzelhändler, oder wer auch immer ein Unternehmen gründen möchte, sie werden von der Familie Iamonte schickaniert. Das fängt bei Einschüchterungen an über Beschädigungen und Drohungen."

Gruppenverwaltigungen offenbar kein Einzelfall

Auch Häuser in den abgelegenen Ortsteilen von Melito, alle im Besitz der Mafia-Familie, seien Orte des Grauens gewesen. Claudio erzählt uns auch: Lucia sei kein Einzelfall. "Ein anderes Mädchen wurde jahrelang von einer Gruppe Jugendlicher - Mafiosi - vergewaltigt", sagt er. "In ihrer Kirchengemeinde ist der Pfarrer wegen Falschaussage und unterlassener Hilfeleistung verurteilt worden oder besser, weil er diese Missbrauchsfälle durch die 'Gang' sogar noch verschleiert hat."

Thema Sex wird tabuisiert

Eine Gruppenvergewaltigung ist also nicht besonderes, die gebe es häufig, sagt auch Antonio Marzale, Kinder- und Jugendschutzbeauftragter in Kalabrien. Das Problem in Italien sei aber nicht nur die Mafia, sondern auch die Tabuisierung des Themas Sex. "Das wichtigste Organ der italienischen Rechtsprechung hat in einem Urteil festgelegt: Frauen die Jeans tragen, provozieren. Und damals, als die Ehefrau eines Marineoffiziers nach einer Vergewaltigung an einer Metrohaltestelle in Rom umgebracht wurde, stand in diesem Urteil: Wenn die Frau sich nicht gewehrt hätte, wäre sie vermutlich noch am Leben", erzählt Antonio Marzale.

Lucia lebt, aber nicht mehr in Melito. Sondern an einem geheimen Ort in Nord-Italien. Auch der Wohnort-Ort der Eltern ist nicht bekannt. Die mutmaßlichen Vergewaltiger sitzen in Untersuchungshaft. Ihnen droht eine Haftstrafe von bis zu 20 Jahren. Und die Einwohner von Melito? Viele von ihnen müssen wohl lebenslänglich mit dem schlechten Gewissen weiter leben, nichts gesagt zu haben.

Autorin: Ellen Trapp, ARD-Studio Rom

Stand: 14.07.2019 00:50 Uhr

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