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Chile: Das nette deutsche Folterdorf

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Chile: Das nette deutsche Folterdorf | Bild: SWR

Nichts soll mehr an die grausame Geschichte dieses Ortes erinnern; an die Folterkeller, in denen hier politische Gegnern der Militärdiktatur gequält wurden, an die Kleinfabriken, in denen junge Menschen zur Sklavenarbeit gezwungen wurden, an die Missbrauchsskandale. Auch der Name wurde geändert: "Colonia Dignidad" hieß einst die berüchtigte Siedlung sektiererischer Auslandsdeutscher in Chile. Heute nennt sich das Areal "Villa Baviera": Bayerisches Dorf. Man könnte es für eine Feriensiedlung halten, in der an manchen Tagen laut und ausgelassen gefeiert wird.

"Ein Skandal" sagt Adriana Bórquez, "das ist so als würde in Auschwitz heute Kabarett gespielt." Adriana Bórquez wurde in den 70er Jahren in die Colonia deportiert und  gefoltert.  Und tatsächlich erinnert im "Bayerischen Dorf" Vieles an die Art, wie Deutschland mit der eigenen Geschichte in den Nachkriegsjahren umgegangen ist. Verdrängen, leugnen, nach vorne schauen.  Wer in der Villa Baviera anders denkt, gilt auch heute noch als Außenseiter. Wie Doris und Joachim Zeitner. Über 40 Jahre lang waren sie eingesperrt, gepeinigt zur Sklavenarbeit gezwungen. Jetzt mussten sie 400 Kilometer weit weg ziehen. Um Abstand zu gewinnen von einem Ort, der sie dennoch nie mehr loslässt.

Weiterleben nach den Elektroschocks

"Das sind unsere ersten Sauerkrautfässer, von unseren Eltern. Hier haben sie Sauerkraut gemacht. Da sieht man auch ein bisschen die Geschichte", sagt Erika Tymm, Bewohnerin "Villa Baviera". Erika war drei Jahre als sie von Deutschland hier her kam. Heute führt sie Besucher durch die ehemalige Colonia Dignidad. Sie erzählt von den harten Anfängen, wenn sie gefragt wird aber auch von den Elektroschocks. "Ich habe mein Leben mit neun Jahren neu angefangen nach einem sehr starken Elektroschock. Ich wusste gar nichts mehr. Ich wusste nicht mehr wie man sich die Hände wäscht und überhaupt nichts mehr. Ich wusste nicht … als ich das erste Mal einen Jungen gesehen habe war das für mich etwas wie aus einer anderen Welt. Ich wusste gar nicht was das ist. Ich musste jeden Handgriff neu lernen."

Gaststätte mit Gästen und Bedienung
Deutsche Gemütlichkeit, wo früher gefoltert wurde.  | Bild: SWR

Ein Stockwerk drüber wird gefeiert. Deutsche Braukunst und Eisbein mit Sauerkraut. Chilenen lieben das Deutschlandbild, das hier gepflegt wird. "Villa Baviera", bayrisches Dorf nennt sich der Ort der einstigen Sekte, ihr Geld verdienen sie jetzt mit Tourismus. An einem Ort an dem geprügelt, gequält und gefoltert wurde. "Das ist ein Skandal", meint Adriana Bórquez, eines der Folteropfer. "Das ist als würde ich ein Cabaret in Auschwitz gründen. Eindeutig. Das ist ein Mangel an Respekt von Seiten der Kolonie. Eine enorme Taktlosigkeit."

Sklavenarbeit und Folterzentrum

Gelände der Colonia Dignidad von oben
Abgeschottet von der Außenwelt, jahrzehntelang ein Ort des Schreckens. | Bild: SWR

Nichts erinnert an das, was sich hier abgespielt hat, über Jahrzehnte. Abgeschottet von der Außenwelt lebten rund 300 Deutsche ihre Vorstellung von einem gottesfürchtigen Leben. Männer und Frauen getrennt, sie mussten wie Sklaven arbeiten. Wer floh wurde eingefangen und aufs Schlimmste misshandelt. Alles nach dem Vorstellungen ihres Führers: Paul Schäfer. Der charismatische Prediger hatte Anhänger um sich gesammelt. In Deutschland wurde er per Haftbefehl gesucht, weil er Jungen sexuell missbraucht hatte. Er floh 1961 nach Chile. Die Kinder und viele ihrer Eltern nahm er einfach mit. Er gründete die "Colonia Dignidad". Vordergründig eine christliche Sekte, tatsächlich aber ein Gefängnis. In dem später auch für die chilenische Militärjunta gefoltert wird.

Zu Hunderten wurden Oppositionelle zur Sekte verschleppt. Adriana Bórquez 1975. Über Wochen wurde die politische Aktivistin gequält. Heute kann sie nicht mehr über die Folter von damals reden, oft genug hat sie das schon getan.  "Ich hatte eine Hose an, die ging mir bis hier hin. Und dann zogen sie mir meine Sachen über den Kopf. Und sie brachten Elektroden an mir an. Überall. Auch an der Brust, an der Vagina. Diese Verhöre habe ich, soweit ich mich erinnern kann, noch einigermaßen mit Würde überstanden. Die Verhöre danach dann allerdings nicht mehr. Da war es aus mit der Haltung, da war Schluss mit der Würde."

Es gab kein Entrinnen

Doris Zeitner
Doris Zeitner schaffte vor über 10 Jahren den Ausstieg.  | Bild: SWR

Wer hinter diesen Zäunen war, für den gab es kein Entrinnen. Das galt auch für die Sektenmitglieder, die als Kinder hier aufwuchsen. "Da wurdest du geschlagen, einmal 20 Minuten lang wurd‘ man nur geschlagen, da kannst du ja gar nicht mehr sitzen", erzählt Doris Zeitner. "Da kannst du auch nicht mehr so schnell arbeiten wie der andere von dir verlangt." Doris und Joachim Zeitner haben 2004 der Colonia den Rücken gekehrt. Seit dem versuchen sie ein normales Leben zu führen. Dass sie Kinder bekamen, ist ihr großes Glück. Das hilft, meinen sie. Trotzdem holt sie die Vergangenheit immer wieder ein, auch noch nach 10 Jahren. "Bevor ich in die Villa zurück gehe, laufe ich als Bettler oder was weiß ich rum, aber ich gehe da nie wieder zurück!", meint Joachim Zeitner, ehemaliger Bewohner "Colonia Dignidad". "Wie soll ich in ein System zurück gehen, wo ich geschlagen wurde, wo ich mit Elektroschocks behandelt wurde, als ein Sklave behandelt wurde. Wir sind an die Vergangenheit gebunden. Aber wir müssen eine zufrieden stellende Antwort kriegen, oder einen Entschädigung, was es auch sei …. dass man ruhig leben kann. Denn wir haben unruhig lange genug gelebt."

Ehemaliger Folterkeller
Der ehemalige Folterkeller, jetzt eine Abstellkammer. | Bild: SWR

Einen Lohn für ihre Zwangsarbeit haben sie nie bekommen. Jetzt soll der Grund und Boden der Kolonie aufgeteilt werden. Eine schmale Parzelle für jedes ehemalige Sektenmitglied. Für die chilenischen Folter-Opfer gibt es keine Entschädigung. Sie laufen gegen diese Pläne ohnehin Sturm. Denn für sie ist das gesamte Gelände ein Mahnmal für die Grauen, die sie hier erlebt haben. "Auf unserem Gebiet sind schlimme Dinge passiert, das müssen wir anerkennen, die brauchen einen Platz", sagt Anna Schnellenkamp, Hotelierin in der "Villa Baviera". "Aber auf der anderen Seite müssen auch sie anerkennen und allgemein auch der deutsche und chilenische Staat, dass auch wir Opfer sind." Dabei ist die Geschichte noch nicht einmal im Ansatz aufgearbeitet. Das zeigt sich hier: Der Kartoffelkeller der Colonia Dignidad. Die Türen sind neu, aber hier war es, wo die politischen Gefangen gefoltert wurden. Nichts erinnert daran, nicht einmal eine Tafel weist darauf hin. Der ehemalige Folterkeller, jetzt ist er eine Abstellkammer.

Eine Reportage von Ulli Neuhoff (SWR) und Klaus Weidmann (SWR).

Stand: 01.08.2019 18:25 Uhr

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