Faktencheck zu "maischberger"

Sendung vom 20.06.2023

Faktencheck

Die Gäste (v.l.n.r.): Eva Schulz, Gabor Steingart, Anja Kohl, Marie-Agnes Strack-Zimmermann, Andreas Kieling, Felix Lee
Die Gäste (v.l.n.r.): Eva Schulz, Gabor Steingart, Anja Kohl, Marie-Agnes Strack-Zimmermann, Andreas Kieling, Felix Lee | Bild: WDR / Thomas Kierok

Bei Maischberger wird engagiert diskutiert, Argumente werden ausgetauscht, es wird auch schon mal emotional und manchmal bleibt am Ende keine Zeit, um alles zu klären. Wenn Fragen offen bleiben, Aussagen nicht eindeutig waren oder einfach weitere Informationen hilfreich sein könnten, schauen wir nach der Sendung noch einmal drauf – hier in unserem Faktencheck.

Und das schauen wir uns an:

  • Wie wirksam sind die Wirtschaftssanktionen gegen Russland?

Wie wirksam sind die Wirtschaftssanktionen gegen Russland?

Gabor Steingart und Anja Kohl stritten in der Sendung über die Frage, welchen Effekt die Sanktionen haben, mit denen Russland nach Beginn des Angriffskriegs gegen die Ukraine belegt wurde. Insbesondere bei den Auswirkungen des Öl-Embargos waren sich unsere Kommentatoren uneinig. Steingart sagte, Russland habe neue Abnehmer für sein Öl gefunden und so die finanziellen Einbußen kompensieren können. Kohl widersprach. Russlands Öl-Einnahmen seien erheblich zurückgegangen, was zu einem Staatsdefizit beigetragen habe, so die ARD-Börsenexpertin. 

Nach Putins Angriff auf die Ukraine: Wie wirksam sind die Wirtschaftssanktionen des Westens?

Maischberger: "Es gibt, glaube ich, 40 Sanktionspakete, die inzwischen gegen Russland beschlossen wurden. Kanzler Scholz nennt sie hochwirksam. Um einmal diese Seite zu betrachten – finden Sie auch, sie sind hochwirksam?"

Steingart: "Na, spannend ist, was die Ökonomen tatsächlich sagen, und die Ökonomen sagen, sie sind nicht hochwirksam. Die russische Wirtschaft wächst. Russland hat für seine Produkte Gas und Öl – wenig verwunderlich, würde ich sagen – andere Abnehmer gefunden in der Welt. Preise ein bisschen reduziert, aber die Preise sind insgesamt durch die Decke gegangen, die Preisreduktion spürte man kaum, und dann ging es nach Indien und nach China. Das heißt, da wurden einfach neue, für uns nicht sehr freundliche Wirtschaftskreisläufe erschlossen. Auch die Türkei hat abgenommen, auch Ungarn, auch innerhalb der EU."

(…)

Kohl: "Kann ich so nicht stehen lassen, sehe ich anders, Herr Steingart. Denn man muss die Daten sich einmal genauer angucken. Entweder sie sind geschönt von Russland, oder was heißt eigentlich, die Wirtschaft wächst in Russland? Putin hat das Land jetzt knapp 16 Monate nach Kriegsbeginn auf totale Kriegswirtschaft umgerüstet. Das heißt, wenn eine Wirtschaft wächst in Russland – 2022 um 2,1 Prozent –, dann steckt dahinter eine Kriegsproduktion. Wenn Sie die rausnehmen, ist die russische Wirtschaft eklatant geschrumpft, und zwar prozentual zweistellig wahrscheinlich. Man kann die Arbeitslosigkeit sich angucken in Russland, die liegt bei drei Prozent, quasi Vollbeschäftigung. Warum? Weil jeder an der Front kämpft oder die, die verweigert haben, das Land verlassen haben. Man braucht mittlerweile Personal ohne Ende, zum Teil machen Strafgefangene die normale Arbeit in der Wirtschaft. Eine Arbeitslosenquote, die gut ausschaut, die aber desaströs ist. Der wichtigste Punkt ist das Öl-Embargo. Das hat massiv gewirkt. Die Öl-Einnahmen Russlands sind um mehr als ein Viertel zurückgegangen, es hat dazu geführt, dass der Staatshaushalt ein massives Defizit hat von 28 Milliarden Euro. Das heißt, man musste Gazprom, den größten Gaskonzern, anzapfen, der ist halb in staatlicher Hand. Man hat eine Sonderdividende gemacht auf einer außerordentlichen Hauptversammlung, das gab es noch nie. Man musste Goldreserven verkaufen. Die russische Wirtschaft ist wirklich massiv betroffen. Das Volk merkt es mittlerweile auch an Wohlstandsverlusten. Nicht die Oligarchen, die haben ihr Geld woanders, in London oder sonst wo. Aber man kann es nicht stehen lassen. Die Sanktionen wirken. Sie wirken massiv. Sie können nicht einen Krieg entscheiden."

Stimmt das? Wie wirksam sind die Wirtschaftssanktionen gegen Russland?

Als Reaktion auf den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine, der seit dem 24. Februar 2022 herrscht, haben insgesamt mehr als 40 Staaten Wirtschaftssanktionen gegen Russland verhängt. Allein die 27 EU-Mitglieder haben seit Kriegsbeginn zehn Sanktionspakete auf den Weg gebracht, das jüngste davon trat Ende Februar 2023 in Kraft. Auf ein elftes Paket verständigte man sich am heutigen Mittwoch (21.6.2023). Die Sanktionen zielen darauf ab, Russland finanziell und wirtschaftlich zu schwächen und somit die Fortführung des Angriffskriegs zu erschweren. So dürfen z.B. zahlreiche Güter nicht mehr aus der EU nach Russland ausgeführt werden. Davon betroffen ist z.B. Spitzentechnologie wie Quantencomputer, leistungsfähige Halbleiter, aber auch Drohnen, Technologie für die Energiewirtschaft und viele Maschinen. Gleichzeitig gilt ein Importstopp für viele russische Güter wie Kohle, Stahl, Gold, Zement, Holz, Papier und Kunststoffe. Seit dem 5. Dezember 2022 darf außerdem kein russisches Öl mehr über den Seeweg in die EU gebracht werden. Verarbeitete Ölprodukte, z.B. Diesel oder Heizöl, dürfen seit dem 5. Februar 2023 ebenfalls nicht mehr aus Russland importiert werden. Nach Angaben der Europäischen Kommission betraf das EU-Ausfuhrverbot seit Februar 2022 Waren im Wert von 43,9 Milliarden Euro, beim Einfuhrverbot sind es sogar 91,2 Milliarden Euro. 

Ein Überblick über alle EU-Sanktionen gegen Russland ist hier nachzulesen. 

Welche Folgen die Sanktionen für die russische Wirtschaft haben, darüber gibt es geteilte Ansichten. Die Analyse wird u.a. auch dadurch erschwert, dass Russland Teile seiner ökonomischen Kennziffern seit Kriegsbeginn nicht mehr wie gewohnt veröffentlicht. Das betrifft z.B. die Außenhandelsstatistik. Aus diesem Grund müssen Analysten vermehrt auf Schätzungen zurückgreifen. Nach Angaben der Weltbank, des Internationalen Währungsfonds (IWF) und der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) ist Russlands Bruttoinlandsprodukt im Jahr 2022 um 2,1 Prozent zurückgegangen. Prognosen darüber, wie sich die Konjunktur weiter entwickeln wird, gehen allerdings auseinander. Die OECD geht für das Jahr 2023 von einem weiteren Rückgang um 2,5 Prozent aus, die Weltbank rechnet mit einem kleineren Minus von 0,2 Prozent. Der IWF hingegen prognostiziert sogar ein Wachstum von 0,7 Prozent, das sich im Jahr 2024 möglicherweise auf 1,3 Prozent steigern könnte. Zuletzt korrigierte auch die europäische Ratingagentur Scope ihre Konjunkturvorhersage. Bislang waren die Analysten von einem Einbruch um 4,0 Prozent im laufenden Jahr 2023 ausgegangen. Den korrigierten Daten nach erwartet man inzwischen aber nur noch ein moderates Minus von 0,8 Prozent. Für das kommende Jahr 2024 prognostiziert auch Scope ein leichtes Wachstum von 0,9 Prozent. Dass die russische Wirtschaft trotz massiver Sanktionen des Westens nicht einbricht, liegt Experten zufolge vor allem an der steigenden Produktion von Rüstungsgütern in Verbindung mit enormen Staatsausgaben.

Der russische Staatshaushalt indes rutschte im ersten Quartal 2023 tief in die roten Zahlen, wie das Finanzministerium in Moskau selbst mitteilte. Demnach lag das Defizit von Januar bis März bei 2,4 Billionen Rubel – umgerechnet etwa 26,5 Milliarden Euro. Zum Vergleich: Im Vorjahreszeitraum verzeichnete der russische Etat noch ein Plus von 1,13 Billionen Rubel. Grund für das Minus sind hohe Rüstungsausgaben bei gleichzeitig sinkenden Einnahmen aus Energieexporten. Während die Einnahmen im ersten Quartal im Vergleich zum gleichen Zeitraum 2022 um gut 20 Prozent auf 5,7 Billionen Rubel einbrachen, stiegen die Ausgaben um 34 Prozent auf 8,1 Billionen.

Hier schlägt vor allem auch das Öl-Embargo zu Buche. Zwar meldete die Internationale Energieagentur (IEA) im April 2023 rein mengenmäßig einen neuen Höchststand bei russischen Öl-Exporten, doch musste Moskau hier deutliche Einbußen beim Preis hinnehmen. Den Zahlen der IEA zufolge verdiente Russland im März 2023 rund 12,7 Milliarden US-Dollar am Öl-Verkauf ins Ausland, was im Vergleich zum Vorjahresmonat einem Einbruch um etwa 43 Prozent entspricht. Die russische Rohölsorte Urals war im März 2023 mit 53,6 US-Dollar pro Barrel so billig wie zuletzt im Januar 2021. Im Mai 2022 war der Preis noch beinahe doppelt so hoch. 

Nach dem Wegfall der westlichen Abnehmerstaaten verkauft Russland sein Öl nun verstärkt nach China oder Indien. Aber auch EU-Mitglied Ungarn bezieht weiterhin Öl aus Russland, wie Gabor Steingart in der Sendung richtig sagte. Damit verstößt Ungarn aber nicht gegen die beschlossenen Sanktionen. Wie oben bereits beschrieben, verbietet die EU lediglich Öl-Importe auf dem Seeweg. Ungarn allerdings bezieht sein Öl auf dem Landweg über die Druschba-Pipeline. 

Die Ratingagentur Scope beschreibt in einer aktuellen Analyse, wie asiatische Wirtschaftsmächte wie China und Indien alternative Handelswege und Märkte zugunsten Russlands eröffnen. Auf diese Weise werden die westlichen Sanktionen gegen Moskau durchaus abgeschwächt, so die Autoren. Eine hohe Inflation werde die Konjunktur aber weiter belasten. Die Verbraucherpreise sollen in diesem Jahr um durchschnittlich sechs Prozent steigen. Weiter heißt es in der Studie: "Der zugrundeliegende Preisdruck wird durch den Arbeitskräftemangel verschärft, der auf die Mobilisierung von Männern im arbeitsfähigen Alter für den Krieg in der Ukraine und die beschleunigte Auswanderung zurückzuführen ist." Die zunehmende Abhängigkeit von der Rüstungsindustrie verringere zudem die Diversifizierung der russischen Wirtschaft, was wiederum die Nachhaltigkeit des prognostizierten Wirtschaftswachstums beeinträchtige. 

Experten sind sich weitgehend einig, dass allein die Sanktionen den Krieg nicht beenden werden. Doch mittel- und langfristig können sie dazu beitragen, den Handlungsspielraum für Russland einzuschränken. Zudem werden Sanktionen als abschreckendes Signal gesehen, das andere Staaten davon abhalten könnte, etwaige Kriegspläne in die Tat umzusetzen.

Fazit: Gabor Steingart und Anja Kohl stritten in der Sendung über die Wirksamkeit der Sanktionen gegen Russland. Steingart sagte, die Strafmaßnahmen werden deutlich überschätzt. Kohl widersprach und verwies auf Russlands Staatsdefizit. Tatsächlich ist die Frage nicht eindeutig zu beantworten, da Russland Teile seiner ökonomischen Kennziffern seit Kriegsbeginn nicht mehr wie gewohnt veröffentlicht. Diverse Schätzungen gehen aber davon aus, dass die russische Wirtschaft im Jahr 2022 um etwa 2 Prozent geschrumpft ist. Prognosen für die kommenden Jahre gehen allerdings deutlich auseinander. Sie reichen von einem weiteren Rückgang um 2,5 Prozent bis hin zu einem Wachstum um 1,3 Prozent. Stärkere Handelsbeziehungen Moskaus mit China und Indien scheinen die westlichen Sanktionen abgedämpft zu haben, auch wenn die Einnahmen aus Öl-Exporten zuletzt um etwa 40 Prozent eingebrochen sind. Russlands Staatsdefizit belief sich im ersten Quartal 2023 auf umgerechnet 26,5 Milliarden Euro. Analysten weisen zudem darauf hin, dass die zunehmende Abhängigkeit von der Rüstungsindustrie die Wirtschaft auf lange Sicht zusätzlich schwächen werde.

Stand: 21.06.2023

Autor: Tim Berressem