Faktencheck zu "maischberger"

Sendung vom 11.07.2023

Faktencheck

Die Gäste (v.l.n.r.): Peter Wohlleben, Sven Plöger, Alev Doğan, Ulrike Herrmann, Ralf Stegner, Norbert Röttgen, Wolfgang Bosbach
Die Gäste (v.l.n.r.): Peter Wohlleben, Sven Plöger, Alev Doğan, Ulrike Herrmann, Ralf Stegner, Norbert Röttgen, Wolfgang Bosbach | Bild: WDR / Dirk Borm

Bei Maischberger wird engagiert diskutiert, Argumente werden ausgetauscht, es wird auch schon mal emotional und manchmal bleibt am Ende keine Zeit, um alles zu klären. Wenn Fragen offen bleiben, Aussagen nicht eindeutig waren oder einfach weitere Informationen hilfreich sein könnten, schauen wir nach der Sendung noch einmal drauf – hier in unserem Faktencheck.

Und das schauen wir uns an:

  • Hätte eine AKW-Laufzeitverlängerung doppelt so viel CO2 eingespart wie das Heizungsgesetz?

Hätte eine AKW-Laufzeitverlängerung doppelt so viel CO2 eingespart wie das Heizungsgesetz?

Der ehemalige CDU-Innenpolitiker Wolfgang Bosbach sagte in unserer Sendung, mit dem Weiterlaufen der letzten drei deutschen Atomkraftwerke hätte die Bundesregierung doppelt so viel CO2 einsparen können wie durch das neue Heizungsgesetz. Dabei stützte er sich auf eine entsprechende Studie der Universität Stuttgart. 

Streit ums Heizungsgesetz: Wäre eine AKW-Laufzeitverlängerung klimafreundlicher gewesen?

Bosbach: "Wenn wir in eine existenzielle Katastrophe hineinrutschen, dann frage ich mich Folgendes. Nach Auskunft der Bundesregierung sollen durch das Gebäudeenergiegesetz/Heizungsgesetz ungefähr 7 Millionen Tonnen CO2 pro Jahr eingespart werden. Hätten wir die letzten drei AKWs am Netz gelassen, wären 15 Millionen CO2-Tonnen eingespart worden, sagt die Uni Stuttgart. Wir hätten also das Doppelte eingespart. Dann kann es ja mit der Katastrophe nicht so schlimm sein. Sie wechseln die Argumente aus, wie Sie sie gerade brauchen."

Herrmann: "Also, die Studie werden wir jetzt noch mal im Faktencheck machen, denn das kann gar nicht sein."

Bosbach: "Professor Thess, Uni Stuttgart."

Maischberger: "Wir nehmen die Studie in den Faktencheck."

Stimmt das? Hätte eine AKW-Laufzeitverlängerung doppelt so viel CO2 eingespart wie das Heizungsgesetz?

Dass die Bundesregierung ursprünglich plante, durch die Novelle des Gebäudeenergiegesetzes (GEG) jährlich etwa 7 Millionen Tonnen CO2 einzusparen, wie Wolfgang Bosbach in der Sendung sagte, kommt in der Größenordnung hin. Im April 2023 beantwortete das Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz (BMWK) eine entsprechende Anfrage des Linken-Bundestagsabgeordneten Dietmar Bartsch. Demnach sollten durch das geplante Einbauverbot neuer Öl- und Gasheizungen bis 2030 insgesamt 43,8 Millionen Tonnen CO2 eingespart werden. Pro Jahr wären das durchschnittlich 6,25 Millionen Tonnen, wobei die Einsparungen in der Prognose des BMWK mit jedem Jahr steigen. Im Jahr 2024 sind es zunächst nur 1,4 Millionen Tonnen, die eingespart werden. Bis 2030 soll dieser Wert auf 10,5 Millionen Tonnen steigen. 

Diese Berechnungen aus dem April 2023 berücksichtigen jedoch noch nicht die Entscheidung der Ampel, der Umsetzung des novellierten GEG eine verpflichtende kommunale Wärmeplanung voranzustellen. Das bedeutet: Wenn in einer Kommune noch kein Plan zum klimaneutralen Umbau der Heizinfrastruktur vorliegt, sollen dort die Regeln des neuen GEG noch nicht gelten. Auf dieses Vorgehen einigten sich die Regierungsparteien am 13. Juni 2023. Bei der Regierungsbefragung im Deutschen Bundestag am 21. Juni 2023 erkundigte sich der stellvertretende CDU-Fraktionsvorsitzende Jens Spahn nach den Einsparungszielen, die die Ampel unter diesen Voraussetzungen erwartet. Die parlamentarische Staatssekretärin im BMWK Franziska Brantner (B’90/Grüne) teilte daraufhin mit, eine "zuverlässige Abschätzung" könne auf Grund "fehlender präziser Angaben und offener Auslegungsfragen" noch nicht erfolgen. 

Die Berechnungen der Universität Stuttgart zum CO2-Einsparpotential von Atomkraftwerken sorgten bereits im April 2023 für Schlagzeilen. Wie Wolfgang Bosbach richtig sagte, kam Prof. Dr. André Thess, Leiter des Instituts für Gebäudeenergetik, Thermotechnik und Energiespeicherung, darin zu dem Ergebnis, dass das Weltklima durch die Abschaltung der letzten drei deutschen Atomkraftwerke mit 15 Millionen Tonnen zusätzlich ausgestoßenem Treibhausgas pro Jahr belastet werde. Gegenstand der medialen Berichterstattung war jedoch nicht die vollständige Studie, wie Prof. Dr. Thess auf Nachfrage erklärt. Diese befinde sich derzeit noch im Begutachtungsprozess durch internationale Fachzeitschriften. Einigen Medien habe er lediglich Eckdaten seiner Analyse zur Verfügung gestellt, z.B. der "Bild"-Zeitung. Hier wurde die Berechnung transparent gemacht: Zu Grunde liegt die Annahme, dass der CO2-Ausstoß des deutschen Strommixes 500 Kilogramm pro Megawattstunde beträgt. Der CO2-Ausstoß, der speziell durch Kernenergie verursacht wird, betrage 40 Kilogramm pro Megawattstunde. Um den Effekt des Atomausstiegs auf die Treibhausgasemissionen zu ermitteln, wurde die Differenz dieser beiden Werte gebildet und mit der Menge an Atomstrom, der 2022 in das deutsche Stromnetz eingespeist wurde (32,7 Terawattstunden), multipliziert. So ergeben sich die rund 15 Millionen Tonnen CO2, die durch den Wegfall der Kernenergie in einem Jahr zusätzlich anfallen sollen. 

Doch wie viel CO2 bei der Produktion von Atomstrom tatsächlich emittiert wird, ist in der Wissenschaft stark umstritten. Die Berechnungen variieren je nachdem, ob nur der Prozess der Energiegewinnung im engeren Sinne oder der gesamte Lebenszyklus eines AKW betrachtet wird. Allein der IPCC-Report von 2014 geht von einer Spanne von 4 bis 110 Kilogramm pro Megawattstunde aus. Der World Information Service on Energy (WISE) kommt auf 117 Kilogramm pro Megawattstunde, wobei der gesamte Lebenszyklus eines AKW berücksichtigt wurde. Laut Atmosphere and Energy Program der Stanford Universität beträgt die Spanne 68 bis 180 Kilogramm pro Megawattstunde, je nach Strommix bei der Urangewinnung und weiteren Variablen. Zu berücksichtigen ist außerdem, dass die Erzeugung einer Megawattstunde Strom in Deutschland im Jahr 2022 nicht genau 500 Kilogramm CO2 verursachte, sondern durchschnittlich 434 Kilogramm, wie das Umweltbundesamt mitteilte. 

Geht man nun also beispielsweise vom maximalen Emissionswert von 180 Kilogramm CO2 pro Megawattstunde Atomstrom aus, sinkt das Ergebnis von 15 Millionen Tonnen fast um die Hälfte auf 8,3 Millionen Tonnen CO2. Bei einem mittleren Emissionswert von 100 Kilogramm pro Megawattstunde kommt man auf etwa 11 Millionen Tonnen CO2. Ein eindeutiges Ergebnis lässt sich angesichts der weit auseinanderklaffenden Werte aber nicht ermitteln, zumal auch die jährlich veröffentlichten Daten zum Strommix in Deutschland variieren.

Einige Experten weisen außerdem darauf hin, dass es unter dem Aspekt des Klimaschutzes nicht zielführend sei, Atomenergie gegen das geplante Heizungsgesetz auszuspielen. Auf mittlere und lange Sicht müsse Deutschland seine Wärmeversorgung umstellen, um die Klimaziele erreichen zu können. "Wir haben trotz Klima- und Energiekrise in den letzten zehn, 15 Jahren konstant 600.000 fossile Heizungssysteme pro Jahr verbaut", erklärte Prof. Gunnar Luderer vom Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung gegenüber dem MDR. "All diese Heizungssysteme werden es langfristig sehr schwer machen, die Klimaziele zu erreichen. Da ist es ganz zentral, jetzt schon umzusteuern. Da kann man nicht zehn Jahre warten." Das ifo-Institut gibt außerdem zu bedenken, dass der Weiterbetrieb von Atomkraftwerken finanzielle Mittel binden würde, die dann mittelfristig für den Ausbau der erneuerbaren Energien fehlten. Solche sekundären Effekte sind in den Berechnungen der Universität Stuttgart nicht berücksichtigt. So resümierte auch der Wissenschaftliche Dienst des Bundestages im November 2022: "Die Entwicklung der CO2-Emissionen mit oder ohne Laufzeitverlängerung dürfte aufgrund der komplexen Zusammenhänge im Energiesektor einer einfachen Berechnung nicht zugänglich sein." Erste Modellierungen deuteten jedoch darauf hin, dass "ein Weiterbetrieb der AKW Isar 2, Emsland und Neckarwestheim 2 bezogen auf den CO2-Ausstoß nicht zu einer nachhaltigen Verbesserung der Situation für das Klima führen dürfte."

Am 15. April 2023 gingen die letzten deutschen Atomkraftwerke Emsland, Neckarwestheim 2 und Isar 2 vom Netz. Ursprünglich sollte dies schon zum 31. Dezember 2022 passieren. Angesichts der durch die russische Invasion in der Ukraine ausgelöste Energiekrise hatte der Bundestag im November 2022 jedoch dafür gestimmt, die Laufzeiten der verbliebenen Reaktoren bis Mitte April 2023 zu verlängern. Laut Statistischem Bundesamt machte Kernenergie im Jahr 2022 noch 6,4 Prozent des hiesigen Strommixes aus. 

Fazit: Der ehemalige CDU-Innenpolitiker Wolfgang Bosbach sagte in unserer Sendung, mit einer Verlängerung der AKW-Laufzeiten hätte die Bundesregierung doppelt so viel CO2 einsparen können wie durch das neue Heizungsgesetz. Hierbei verwies er auf eine entsprechende Studie der Universität Stuttgart. Tatsächlich sorgten diese Berechnungen, wonach das Abschalten der Reaktoren für einen jährlichen Mehrausstoß von 15 Millionen Tonnen CO2 verantwortlich sei, im April 2023 für Schlagzeilen. Es handelt sich dabei aber nicht um eine vollständige Studie, sondern um Eckdaten, die der Autor verschiedenen Medien vorab zur Verfügung gestellt hat. Die möglichen Einsparungen durch eine Laufzeitverlängerung wären demnach tatsächlich mehr als doppelt so hoch wie die Einsparziele, die die Bundesregierung für das neue Gebäudeenergiegesetz formulierte. Doch die in den Medien erläuterte Berechnung hat Schwachpunkte. So gehen in der Wissenschaft die Angaben, wie viel CO2 bei der Produktion von Atomstrom emittiert wird, weit auseinander. Außerdem variieren die jährlich veröffentlichten Daten zum Strommix in Deutschland. Mittel- und langfristige Sekundäreffekte einer Laufzeitverlängerung, etwa auf den Ausbau der erneuerbaren Energien, werden überdies in den Berechnungen nicht berücksichtigt. Der Wissenschaftliche Dienst des Bundestages geht davon aus, dass diese komplexen Zusammenhänge nicht in einer einfachen Rechnung dargestellt werden können. 

Stand: 12.07.2023

Autor: Tim Berressem