Faktencheck zu "maischberger"

Sendung vom 19.09.2023

Faktencheck

Die Gäste (v.l.n.r.): Paul Ronzheimer, Yasmine M’Barek, Oliver Kalkofe, Reinhold Beckmann
Die Gäste (v.l.n.r.): Paul Ronzheimer, Yasmine M’Barek, Oliver Kalkofe, Reinhold Beckmann | Bild: WDR / Thomas Kierok

Bei Maischberger wird engagiert diskutiert, Argumente werden ausgetauscht, es wird auch schon mal emotional und manchmal bleibt am Ende keine Zeit, um alles zu klären. Wenn Fragen offen bleiben, Aussagen nicht eindeutig waren oder einfach weitere Informationen hilfreich sein könnten, schauen wir nach der Sendung noch einmal drauf – hier in unserem Faktencheck.

Und das schauen wir uns an:

  • Sind die Flüchtlingszahlen heute höher als im Jahr 2015?

Sind die Flüchtlingszahlen heute höher als im Jahr 2015?

Kevin Kühnert (SPD) und Carsten Linnemann (CDU) diskutierten in der Sendung u.a. über den Umgang der Bundesregierung mit der steigenden Zahl an Flüchtlingen, die nach Deutschland kommen. In diesem Zusammenhang behauptete Linnemann, die aktuellen Zahlen seien sogar höher als die im Jahr 2015.

Steigende Flüchtlingszahlen: Kommen aktuell mehr Menschen nach Deutschland als im Jahr 2015? | Video verfügbar bis 19.09.2024

Kühnert: "Wir verhandeln ja – seit vielen Jahren bislang ergebnislos, auch unter anderer Bundesregierung vorher – auf europäischer Ebene über gemeinsame Lösungen. Wir sind jetzt so nah, wie wir noch nie waren, und Nancy Faeser hat als Innenministerin dort einen maßgeblichen Anteil daran gehabt, dass wir zu einem solidarischen Verteilmechanismus in Europa kommen, dass diejenigen, die nicht aufnehmen, zahlen müssen, um die Kosten der anderen mittragen zu können."

Maischberger: "Funktioniert das schon?"

Kühnert: "Das ist das sogenannte Trilog-Verfahren auf europäischer Ebene."

Maischberger: "Funktioniert das schon?"

Kühnert: "Es muss doch erst mal entwickelt werden. Wir können ja diejenigen fragen, die mit ihren vielen CDU/CSU-Innenministern die letzten Jahre zwar immer ganz viele Appelle in diesem Feld gemacht haben –"

Linnemann: "Nee, nee, nee, nee."

Kühnert: "Ich weiß, dass euch das stört."

Linnemann: "Nein."

Kühnert: "Aber es ist ja Teil der Realität."

Linnemann: "Die Zahlen sind runtergegangen mit dem Türkei-Abkommen und mit der Schließung der Balkanroute. Die sind jetzt wieder hoch. Und zwar höher als 2015."

Kühnert: "Ja, gut. Wir verwirren die Leute jetzt nur, wenn wir die Zahlen alle nebeneinander halten an der Stelle."

Stimmt das? Sind die Flüchtlingszahlen heute höher als im Jahr 2015?

Nach Angaben des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (BAMF) haben im Jahr 2022 insgesamt 244.132 Menschen in Deutschland Asyl beantragt. Hinzu kommen rund eine Million Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine, die keinen Asylantrag stellen müssen, sondern den Flüchtlingsschutz durch ein gesondertes Schnellverfahren erhalten. Laut Bundesinnenministerium (BMI) lag die genaue Zahl zum Jahresende 2022 bei 1.045.185 Menschen, die in Folge des russischen Angriffskriegs nach Deutschland geflohen sind. Im Oktober 2022 startete die Bundesregierung zudem ein spezielles Aufnahmeprogramm für besonders gefährdete Menschen aus Afghanistan. Es sollte Betroffenen, die nach der Machtübernahme der militant-islamistischen Taliban mit Verfolgung rechnen mussten, eine Einreise in die Bundesrepublik ohne Asylverfahren ermöglichen. Wie die Bundesregierung am 13.9.2023 auf eine Anfrage der Linken-Fraktion hin mitteilte, ist bislang jedoch noch niemand über das Programm nach Deutschland gelangt.

Insgesamt flohen im Jahr 2022 also 1.289.317 Menschen nach Deutschland.

Zwischen Januar und August 2023 wurden laut BAMF insgesamt 220.116 Asylanträge gestellt. Das sind rund 66 Prozent mehr Asylanträge als im gleichen Zeitraum 2022. Die Anzahl der aus der Ukraine geflohenen Menschen ist dagegen deutlich geringer als im Vorjahr. Laut BMI belief sich die Zahl zwischen Januar und August 2023 auf ingesamt 41.172. 

Zwischen Januar und August 2023 sind demnach insgesamt 261.288 Menschen nach Deutschland geflohen. 

Im Vergleich dazu stellten 2015 und 2016, als es vor allem wegen des Bürgerkriegs in Syrien eine verstärkte Fluchtbewegung nach Europa gab, laut BAMF insgesamt 1.222.194 Menschen einen Asylantrag. Demzufolge sind allein im Jahr 2022 mehr Menschen nach Deutschland geflohen als in den Jahren 2015 und 2016 zusammen. Natürlich ist hierbei zu beachten, dass 2022 mit dem Angriff Russlands auf die Ukraine eine besondere Situation entstanden ist. Die Schnellverfahren ohne Asylantrag, die seither für Geflüchtete aus der Ukraine gelten, gab es vorher nicht. 

Die Zahlen für das bisherige Jahr 2023 liegen unter dem Niveau der Jahre 2015/2016.

Wie Carsten Linnemann in der Sendung richtig sagte, waren die Flüchtlingszahlen in den Jahren nach 2016 deutlich gesunken – von 745.545 (2016) auf 122.170 (2020). Einer der Gründe für diese Entwicklung war die sogenannte EU-Türkei-Flüchtlingsvereinbarung, die am 18. März 2016 von der damaligen Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) in Brüssel präsentiert wurde. Das Abkommen sollte dazu dienen, irreguläre Einreisen von Asylsuchenden in die EU zu reduzieren. Die EU verpflichtete sich, sechs Milliarden Euro an Hilfsgeldern zu zahlen, die direkt an Flüchtlingsprojekte, etwa für den Bau von Schulen, und Hilfsorganisationen in der Türkei fließen sollten. Im Gegenzug sollte die Türkei die Schleuserroute durchs Mittelmeer abriegeln und sich verpflichten, Flüchtlinge zurückzunehmen, wenn sie doch mit Booten auf den griechischen Inseln anlandeten. Im März 2020 kam es jedoch zum Bruch des Abkommens, nachdem der syrische Bürgerkrieg in der Region um Idlib eskaliert war. Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan teilte damals mit, dass sein Land einen neuen Zustrom von Flüchtlingen nicht alleine schultern könne, und öffnete die Grenzen zur EU. Drei Wochen später machte Erdoğan die Entscheidung rückgängig, nachdem sich die EU bereit erklärt hatte, die Hilfszahlungen für die Türkei aufzustocken. Seither wird vielfach diskutiert, unter welchen Bedingungen das Abkommen fortgesetzt werden kann. Zahlreiche Kritiker sehen die Vereinbarung bereits als gescheitert an. 

Anfang Juni 2023 stießen die Innenminister der EU-Staaten die Entwicklung eines Mechanismus zur Verteilung von Geflüchteten an. Der Plan: Wenn Länder mit einem sehr großen Zustrom an Menschen konfrontiert sind, sollen sie künftig Unterstützung von anderen Mitgliedstaaten beantragen können. Eine bestimmte Anzahl an Schutzsuchenden würde dann über einen Verteilungsschlüssel in andere Länder kommen. Staaten, die sich daran nicht beteiligen wollen, müssten für jeden nicht aufgenommenen Menschen eine Kompensationszahlung leisten. Auf dem EU-Gipfel Ende Juni konnte in dieser Sache jedoch vorerst kein Konsens unter den Mitgliedstaaten erreicht werden – Polen und Ungarn stellten sich quer. Darüber hinaus müsste auch das Europaparlament dem Kompromiss zustimmen, ehe er in Kraft treten kann. Auch dies gilt unter Beobachtern derzeit als eher schwierig.

Fazit: CDU-Generalsekretär Carsten Linnemann behauptete in der Sendung, die aktuellen Flüchtlingszahlen seien höher als die im Jahr 2015. Betrachtet man das Jahr 2022, das besonders durch den Kriegsausbruch in der Ukraine geprägt war, stimmt das. 2022 sind mehr Menschen nach Deutschland geflohen als in den Jahren 2015 und 2016 zusammen. Die Zahlen für das bisherige Jahr 2023 liegen aber unter dem Niveau der Jahre 2015/2016. Wie Carsten Linnemann in der Sendung richtig sagte, waren die Flüchtlingszahlen in den Jahren nach 2016 deutlich gesunken – von 745.545 (2016) auf 122.170 (2020).

Stand: 20.09.2023

Autor: Tim Berressem