Faktencheck zu "maischberger"

Sendung vom 20.09.2023

Faktencheck

Die Gäste (v.l.n.r.): Luisa Neubauer, Mariam Lau, Tilo Jung, Hubertus Meyer-Burckhardt, Markus Blume
Die Gäste (v.l.n.r.): Luisa Neubauer, Mariam Lau, Tilo Jung, Hubertus Meyer-Burckhardt, Markus Blume | Bild: WDR / Andre Kowalski

Bei Maischberger wird engagiert diskutiert, Argumente werden ausgetauscht, es wird auch schon mal emotional und manchmal bleibt am Ende keine Zeit, um alles zu klären. Wenn Fragen offen bleiben, Aussagen nicht eindeutig waren oder einfach weitere Informationen hilfreich sein könnten, schauen wir nach der Sendung noch einmal drauf – hier in unserem Faktencheck.

Und das schauen wir uns an:

  • Kommt Deutschland nur mit französischem Atomstrom über den Winter? Importieren wir Atomstrom?

Der Faktencheck vom 20.09.2023 wurde überarbeitet, da er an einigen Passagen nicht korrekt war. Auch der ursprüngliche Titel "Ist Deutschland abhängig von französischem Atomstrom?" wurde geändert, um die im Fließtext überprüften Behauptungen konkreter zu fassen. Wir bitten um Entschuldigung.

Änderung 1: 22.9.2023/ca. 14.00 Uhr – Titel

Änderung  2: 22.9.2023/17.33 Uhr – Überarbeitung des Textes und Korrektur zum Punkt "Stromimporte aus Frankreich"

Änderung 3: 23.9.2023/19:58 Uhr – Überarbeitung des Textes und Korrektur zum Punkt "Stromexporte und Stromimporte"

Kommt Deutschland nur mit französischem Atomstrom über den Winter? Importieren wir Atomstrom?

Der Bayerische Staatsminister für Wissenschaft Markus Blume (CSU) und die Klimaschutzaktivistin Luisa Neubauer (Sprecherin Fridays for Future und Mitglied bei B'90/Grüne) diskutieren in der Sendung u.a. über den deutschen Ausstieg aus der Atomenergie. Blume führt an, die Bundesrepublik sei seither auf Stromimporte aus dem Ausland angewiesen, insbesondere auf Atomstrom aus Frankreich, um über den Winter zu kommen. Neubauer widerspricht dieser Darstellung.

Deutschland nach dem Atomausstieg: Sind wir abhängig von Stromimporten? | Video verfügbar bis 20.09.2024

Blume: "Fakt ist: Mit dem Abschalten der Kernkraftwerke haben wir eine weitgehend CO2-neutrale Energieversorgung aus der Hand gegeben, und auf der anderen Seite massive Stromimporte, Kohlestrom aus Polen, Atomstrom aus Frankreich. Und wenn das die Herangehensweise ist, um wirklich Klimaschutz zu leisten, dann – muss ich sagen – hat diese Bundesregierung alles falsch gemacht."

(…)

Neubauer: "Vielleicht müssen wir es einmal ganz kurz einordnen, zu der Atomkraft. Das wird jetzt hier wieder wie eine Nebelkerze in jede Klima-Diskussion reingeworfen. Ich mache Ihnen einen Vorschlag. Sie und viele andere, auch die FDP, Sie haben uns monatelang hier die Hölle heiß gemacht, was passiert alles, wenn die Atomkraft abgeschaltet wird in Deutschland? Ob man das jetzt gut findet oder nicht, da waren die Horrorszenarien hingemalt. Sie sind jetzt abgeschaltet. Was ist passiert? Gar nichts. Da sind nicht die Lampen ausgegangen, die Industrie –"

Blume: "Wir importieren Strom aus dem Ausland."

Neubauer: "Wir sind Netto-Exporteur. Das ist wirklich Fake-News, was Sie hier verbreiten. Wir sind Netto-Stromexporteur. Die Industrie läuft weiter. Wir haben keine deutschlandweiten Knappheiten. Es ist nicht eingetreten, wovor Sie uns alle gewarnt haben. Und völlig unabhängig, wie man das jetzt findet mit der Atomkraft – wir kommen zurecht, wir können mit Erneuerbaren sehr, sehr gut weiter den Energiebedarf, den Strombedarf organisieren. Es muss einen weiteren Ausbau geben. Aber wie wär’s, Sie nutzen die freigewordene Zeit und Energie jetzt für andere politische Projekte, weil die Sache ist gelaufen. So. Das ist vorbei und ist vielleicht tragisch, da muss man so ein bisschen melancholisch Tschüs sagen. Aber wäre das nicht vielleicht ein Weg, damit umzugehen?"

Maischberger: "Naja, Markus Söder sagt, er würde die Kernkraft wieder anschalten wollen."

Blume: "Also, für die Tatsache, dass wir aus ideologischen Gründen in einer völlig veränderten Zeit vier Gigawatt – und zwar gesicherte Leistung – in Deutschland vom Netz nehmen, und die Bundesnetzagentur festgestellt hat, Deutschland wird über den nächsten Winter kommen, was den Strom angeht, aber nur dank des französischen Atomstroms und des –"

Neubauer: "Wir importieren keinen französischen Atomstrom. Das stimmt einfach nicht."

Blume: "Bitte, Frau Neubauer. Und den Kohlestrom aus Polen und aus anderen Ländern. So war nicht gewettet. Und da muss ich sagen, da ist für den Klimaschutz unterm Strich überhaupt nichts gewonnen."

Stimmt das? Kommt Deutschland nur mit französischem Atomstrom über den Winter? Importieren wir Atomstrom?

Die in Deutschland am Stromnetz befindlichen Kraftwerke verfügen laut Bundesnetzagentur über eine Leistung von insgesamt rund 234 Gigawatt (Stand: 19.7.2023). Zieht man die Leistung aus Wind- und Sonnenenergie ab, bleiben immer noch knapp 100 Gigawatt, die auch bei Dunkelheit und Flaute zur Verfügung stehen. Laut Daten des Fraunhofer-Instituts für Solare Energiesysteme (ISE) lag der höchste gemessene Strombedarf der vergangen acht Jahre in Deutschland bei 81,3 Gigawatt. Das war am 30. November 2021. In der Regel liegt die Tagesspitze bei etwa 70 Gigawatt. Nach dieser Datengrundlage wäre die Energie allein aus den in Deutschland vorhandenen Kraftwerken ausreichend, um den Bedarf zu decken. 

Stromimporte ab dem zweiten Quartal gestiegen

Dass Deutschland seit dem endgültigen Atomausstieg am 15. April 2023 mehr Strom aus dem Ausland importiert hat, stimmt trotzdem. Tatsächlich ist der Stromimport nach Abschalten der letzten Atommeiler signifikant angestiegen. Das geht aus aktuellen Zahlen des Fraunhofer ISE hervor. Demnach wurden im zweiten Quartal 2023 rund 8,1 Terawattstunden mehr Strom ein- als ausgeführt. Vor der Abschaltung der letzten drei Atommeiler überstiegen die Exporte noch die Importe. Im ersten Quartal 2023 betrug der Export-Überschuss rund 8,7 Terawattstunden. Doch seit dem Monat April, in dem der Atomausstieg final vollzogen wurde, hat Deutschland in jedem Monat durchweg mehr Strom ein- als ausgeführt. Die Gesamtbilanz des laufenden Jahres zeigt, dass die Stromimporte die Exporte zwischen dem 1.1.2023 und dem 23.9.2023 um etwa 11,8 Terawattstunden überstiegen. Die Aussage von Luisa Neubauer in unserer Sendung vom 20.9.23 "Wir sind Netto-Stromexporteur" ist also nicht korrekt. Deutschland importiert nicht nur seit April 2023 mehr Strom als es exportiert, sondern weist nun darüber hinaus auch von Januar bis September insgesamt für das Jahr 2023 einen Importüberschuss aus. Und das, nachdem Deutschland über Jahre – in der Tat bis 2022 – stabil einen Exportüberschuss aufweisen konnte. Es sind also keine "Fake News", sondern statistisch belegt, dass Deutschland derzeit mehr Strom importiert als exportiert.

Dass im Sommer die Stromimporte überwiegen, ist aber nicht grundsätzlich eine Besonderheit dieses Jahres und nicht allein auf das Schließen der letzten Atommeiler im April zurückzuführen. Auch in den Jahren 2010, 2011, 2014, 2019, 2020 und 2021 gab es in den Sommermonaten einen Stromimport-Überschuss – allerdings in einem deutlich geringeren Umfang. Während der Importüberschuss z.B. in den Monaten Juni, Juli und August 2021 insgesamt 2 Terawattstunden betrug, waren es im gleichen Zeitraum 2023 etwa 13,4 Terawattstunden, also mehr als das 6-fache.

Importe seit Atomausstieg oft günstiger als Eigenproduktion

Die gestiegenen Importe bedeuten aber nicht, dass Deutschland abhängig ist von im Ausland produziertem Strom. Denn Deutschland ist Teil des staatenübergreifenden europäischen Strommarkts, in dem die Staaten ihren Strom nach Möglichkeit immer vom preisgünstigsten Erzeuger beziehen können. Strom wird also in der Regel nicht wegen eines zu hohen Bedarfs importiert, sondern weil die Einfuhr günstiger ist als die Eigenproduktion. Weil Wind- und Solarparks weder teuren Brennstoff noch CO2-Emissionsrechte kaufen müssen, haben sie grundsätzlich die niedrigsten Preise. Und aus diesem Umstand erklärt sich, warum die Importe unmittelbar nach dem Atomausstieg gestiegen sind: Denn am 15. April 2023 sind jene Kraftwerke vom Netz gegangen, die hinter den erneuerbaren Energien am zweitgünstigsten waren, nämlich die Atomkraftwerke. Wenn Wind und Sonne den Bedarf allein nicht decken, ist es seither oft günstiger, Strom aus dem Ausland zu importieren, wo auch noch Atomstrom produziert wird, als hierzulande die Gas- und Kohlekraftwerke hochzufahren.

Die meisten Stromimporte kamen im ersten Halbjahr 2023 mit 4,7 Milliarden Kilowattstunden aus den Niederlanden (+ 37,6 Prozent zum ersten Halbjahr 2022). Den stärksten Anstieg beim nach Deutschland importierten Strom verzeichnete Frankreich. Von dort wurden 4,4 Milliarden Kilowattstunden Strom importiert (+147,8 Prozent). Wie viel davon aus Kernkraftwerken stammt, lässt sich nicht eindeutig bestimmen. In einer Analyse aus dem August 2022 legte der Wissenschaftliche Dienst des Bundestages dar, dass sich die Erzeugertechnologie einer importierten Strommenge nicht zuverlässig zurückverfolgen lasse. Eine Annäherung könne allenfalls über den jeweiligen Strommix des Ursprungslandes erfolgen, und zwar unter der Annahme, dass sich der importierte Strom identisch zusammensetzt. In den Niederlanden macht die Kernenergie aktuell etwa 3 Prozent des Strommixes aus, wie Daten der Gesellschaft für Anlagen- und Reaktorsicherheit (GRS) zeigen. Der größte Anteil entfällt auf Gaskraft (47 Prozent), gefolgt von Windkraft (15 Prozent). In Frankreich wird deutlich mehr Strom durch Kernkraft erzeugt, nämlich etwa 69 Prozent. Mit großem Abstand folgen hier Wasserkraft (11 Prozent) und Windkraft (7 Prozent). 

Für den Monat Mai 2023 hat die Denkfabrik Agora Energiewende einen Energiemix der deutschen Importe errechnet. Dieser bestand demnach zu 50 Prozent aus erneuerbaren Energien, zu 23 Prozent aus Atomstrom und zu 6 Prozent aus Kohlekraft. Dass Deutschland überhaupt keinen französischen Atomstrom importiert, wie Luisa Neubauer in der Sendung sagte, ist aufgrund dieser Daten- und Analyselage nicht denkbar. Die Darstellung von Luisa Neubauer muss konkludent als nicht haltbar bewertet werden.

Strombedarf auch im Winter gedeckt

Markus Blume stellt in der Sendung auch dar, dass Deutschland nun nach dem Atomausstieg laut Angaben der Bundesnetzagentur nur mit Hilfe von Atomstrom aus Frankreich über den Winter kommen könne. Diese Aussage hält einer genaueren Betrachtung allerdings nicht ganz Stand. Wie oben in diesem Faktencheck gezeigt, reicht die Leistung der in Deutschland produzierenden Kraftwerke aus, um den hiesigen Strombedarf auch in Spitzenzeiten zu decken, ohne dass Stromimporte zwingend notwendig wären. Gewöhnlich bezieht Deutschland aber ausländische Kraftwerke in die sogenannte Netzreserve ein. Dabei geht es nicht primär um den Strombedarf der Verbraucher in Deutschland, sondern um technische Abläufe, um die Netzstabilität zu gewährleisten. Denn das Netz ist in den Wintermonaten überdurchschnittlich stark ausgelastet, weil der Strombedarf in dieser Zeit am höchsten ist. Das Problem: Im Norden Deutschlands produzieren die Windkraftwerke im Winter phasenweise zu viel Energie. Das vorhandene Übertragungsnetz reicht nicht immer aus, um den Strom vom Norden in den Süden zu transportieren. Das hat zur Folge, dass im Norden Windkrafträder abgeschaltet und Kraftwerke heruntergefahren werden müssen. Gleichzeitig müssen im Süden Kraftwerke hochgefahren werden, um einen Ausgleich zu schaffen. Diesen Vorgang bezeichnet man auch als Redispatch.

Die Bundesnetzagentur informierte im April 2023 – wie jedes Jahr – über den sogenannten Netzreservebedarf für den bevorstehenden Winter. Für den kommenden Winter plant die Behörde mit einem Bedarf von 4.616 Megawatt. Zum größten Teil wird dieser durch inländische Kraftwerke gedeckt. Ein kleinerer Teil von 1.334 Megawatt soll zudem über ausländische Kraftwerke gedeckt werden, für den Fall, dass es in Deutschland Netzprobleme gibt. Und in der Tat werden für diese Absicherung auch französische Kernkraftwerke in die Überlegungen einbezogen. Dies bestätigt auch das Bundeswirtschaftsministerium für die ihm unterstellte Bundesnetzagentur: In einer schriftlichen Antwort auf eine Anfrage des CDU-Bundestagsabgeordneten Jens Spahn, der konkret nach der Bedeutung des Atomausstiegs und der französischer Kernkraftwerke für die Netzstabilität fragte, teilte das Bundeswirtschaftsministerium am 5.6.2023 mit, dass bei der Ermittlung des Netzreservebedarfs sowohl der Ausstieg aus der Kernenergie in Deutschland als auch die "Verfügbarkeit der Leistung der Kernkraftwerke in Frankreich" berücksichtigt wurden. Dass ausländische Kraftwerke an der Netzreserve beteiligt sind, ist nicht neu. Schon in den beiden Vorjahren war dies der Fall.  

Die Stromversorgung im kommenden Winter sei "so sicher wie wir es seit vielen Jahren gewohnt sind", betonte der Präsident der Bundesnetzagentur Klaus Müller im April. "Herausfordernd für die Systemstabilität ist nicht die sogenannte Dunkelflaute, sondern eine Situation mit hohem Verbrauch im Süden und sehr viel erneuerbarer Erzeugung im Norden." Vor diesem Hintergrund unterstrich er, dass ein rascher Netzausbau für die Energiewende wesentlich sei und die Netzsicherheit erhöhe.

Fazit: Die Aussage von Luisa Neubauer (Fridays for Future, B'90/Grüne) in der Sendung vom 20.9.23 "Wir sind Netto-Stromexporteur" ist nicht korrekt. Deutschland importiert nicht nur seit April 2023 mehr Strom als es exportiert, sondern weist nun darüber hinaus auch von Januar bis September insgesamt für das Jahr 2023 im Vergleich zum Stromexport einen Importüberschuss aus. Und das, nachdem Deutschland über Jahre stabil einen Exportüberschuss aufweisen konnte.

Bayerns Staatsminister für Wissenschaft Markus Blume (CSU) stellte in der Sendung dar, Deutschland könne in Folge des Atomausstiegs nur mit Hilfe von Atomstrom aus Frankreich über den nächsten Winter kommen. Diese Aussage hält einer genaueren Betrachtung nicht ganz stand. Die Bundesnetzagentur plant lediglich, die sogenannte Netzreserve für den Winter unter Einbeziehung ausländischer Kraftwerke zu organisieren. Dieses Vorgehen kennt man allerdings auch schon aus den Vorjahren. In diese Überlegungen für den nächsten Winter sind allerdings in der Tat auch französische Kernkraftwerke einbezogen.

Dass Deutschland überhaupt keinen französischen Atomstrom importiert, wie Luisa Neubauer in der Sendung sagte, ist nicht denkbar. Die Aussage von Luisa Neubauer muss auf der Grundlage der gegebenen Datenanalyse als falsch bewertet werden.

Artikel zuletzt aktualisiert: 23.9.2023, 19:58

Autor: Tim Berressem