Faktencheck zu "maischberger"

Sendung vom 06.05.2025

Faktencheck

Die Gäste (v.l.n.r.): Gabor Steingart, Anna Lehmann, Theo Koll, Martin Schulz
Die Gäste (v.l.n.r.): Gabor Steingart, Anna Lehmann, Theo Koll, Martin Schulz | Bild: WDR / Oliver Ziebe

Bei Maischberger wird engagiert diskutiert, Argumente werden ausgetauscht, es wird auch schon mal emotional und manchmal bleibt am Ende keine Zeit, um alles zu klären. Wenn Fragen offen bleiben, Aussagen nicht eindeutig waren oder einfach weitere Informationen hilfreich sein könnten, schauen wir nach der Sendung noch einmal drauf – hier in unserem Faktencheck.

Und das schauen wir uns an:

  • Gab es auch bei früheren Kanzlerwahlen Abweichler innerhalb der Koalitionsfraktionen?

Gab es auch bei früheren Kanzlerwahlen Abweichler innerhalb der Koalitionsfraktionen?

Gabor Steingart, Herausgeber von "The Pioneer Briefing", äußerte sich dazu in unserer Sendung. Dass Friedrich Merz erst im zweiten Wahlgang erfolgreich war, sei zwar ein Novum in der Geschichte der Bundesrepublik, so Steingart. Gleichzeitig betonte er aber, dass es schon bei früheren Kanzlerwahlen immer wieder Abweichler innerhalb der Regierungskoalitionen gegeben habe. Allerdings seien die Mehrheiten früher stabiler gewesen, sodass kein zweiter Wahlgang nötig war.

Historische Kanzlerwahl: Doch hat es Abweichler nicht schon immer gegeben? | Video verfügbar bis 06.05.2026

Steingart: "Wenn man in die Geschichte guckt, weiß man, dass nicht alle Kanzlermehrheiten immer standen, sondern dass da immer was gefehlt hat. Weil es immer Rechnungen gibt, die zu begleichen sind. Bei Frau Merkel, das haben viele vergessen, fehlten auf einmal 50. 50 ihrer eigenen Leute, ihrer Kanzlermehrheit fehlten. Der Unterschied zu heute war, es war nicht so knapp genäht sozusagen, die Mehrheiten waren stabiler zu der Zeit, 2005. Jetzt waren es 12. Mir war schon klar, dass nicht alle mitstimmen."

Stimmt das? Gab es auch bei früheren Kanzlerwahlen Abweichler innerhalb der Koalitionsfraktionen?

Die Wahl des Bundeskanzlers ist in Artikel 63 des Grundgesetzes klar geregelt. Dort heißt es wörtlich: "Gewählt ist, wer die Stimmen der Mehrheit der Mitglieder des Bundestages auf sich vereinigt." Bisher erhielten alle neun Bundeskanzler bereits im ersten Wahlgang die notwendige absolute Mehrheit. Friedrich Merz, der am gestrigen Dienstag (6.5.2025) vom Bundestag zum zehnten Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland gewählt wurde, ist der erste, der einen zweiten Wahlgang benötigte.

Im ersten Durchgang der geheimen Abstimmung hatte Merz 310 Ja-Stimmen erhalten – sechs weniger als die nötige Mehrheit von 316. Da die Koalitionsfraktionen CDU/CSU und SPD zusammen 328 Sitze im Parlament haben, müssen also 18 Abgeordnete gegen Merz gestimmt haben. Im zweiten Anlauf erhielt der 69-jährige Sauerländer schließlich 325 Ja-Stimmen und erreichte die nötige Mehrheit. Trotzdem fehlten ihm immer noch drei Stimmen aus den eigenen Reihen.

Abweichler sind bei Kanzlerwahl nicht ungewöhnlich

Gabor Steingart sagte in unserer Sendung, dass zwar die Notwendigkeit eines zweiten Wahlgangs ein Novum war, nicht aber das Ausscheren einzelner Abgeordneter der Koalitionsfraktionen. Das stimmt. Ein Blick zurück in die Geschichte zeigt, dass sich bislang nur bei einer einzigen Kanzlerwahl die Zahl der Ja-Stimmen mit der Größe der jeweiligen Regierungskoalition deckte. Das war im Jahr 1998, als Gerhard Schröder (SPD) zum ersten Mal ins Amt gewählt wurde. Der Sozialdemokrat erhielt damals sogar sechs Stimmen mehr, als seine rot-grüne Koalition an Abgeordneten zählte. Beobachter vermuteten, dass diese zusätzlichen Stimmen von Abgeordneten der FDP kamen, die nach 16 Jahren unter Bundeskanzler Helmut Kohl (CDU) ein Zeichen des Aufbruchs setzen wollten.

Die meisten Abweichler gab es im Jahr 1966, als Kurt Georg Kiesinger (CDU) zum Kanzler gewählt wurde. Ganze 107 Stimmen aus den eigenen Reihen fehlten ihm. Jedoch waren die Mehrheitsverhältnisse innerhalb des Parlaments damals mehr als deutlich. Die von Kiesinger angeführte Große Koalition kam auf insgesamt 90 Prozent der Sitze. So erreichte der Christdemokrat trotz großer Abweichlerzahl problemlos die nötige Mehrheit, um im ersten Wahlgang zum Bundeskanzler gewählt zu werden.

Merkel: 51 Abweichler bei Kanzlerwahl 2005

Wie Gabor Steingart bereits in der Sendung ansprach, konnte auch Angela Merkel (CDU) ihre Reihen nicht restlos von sich überzeugen. Bei ihrer ersten Wahl im Jahr 2005 gab es 51 Abweichler, aber auch hier waren die Mehrheitsverhältnisse für sie komfortabel genug. Gleiches galt für die folgenden Kanzlerwahlen 2009 (9 Abweichler), 2013 (41 Abweichler) und 2018 (35 Abweichler). Olaf Scholz (SPD) fehlten bei seiner Wahl 2021 insgesamt 21 Stimmen aus der eigenen Koalition.

Insofern sind die 18 Abweichler, die sich im ersten Wahlgang gegen Friedrich Merz aussprachen, nicht ungewöhnlich. Doch aufgrund der knappen Mehrheitsverhältnisse im neuen Bundestag waren die Konsequenzen gravierender als bei früheren Wahlen. Aktuell kommen Union und SPD auf 52 Prozent der Bundestagssitze. Knapper war eine Mehrheit zuletzt in Gerhard Schröders zweiter Amtszeit zwischen 2002 und 2005. Damals erreichte Rot-Grün mit 50,7 Prozent gerade so die absolute Mehrheit. Mit Angela Merkel wurden die Kräfteverhältnisse dann eindeutiger. Die in Merkels erster Amtszeit (2005-2009) regierende Große Koalition hatte einen Sitzanteil von 73 Prozent. In ihrer dritten Amtszeit (2013-2017) – ebenfalls mit einer Großen Koalition – waren es sogar fast 80 Prozent. Die Ampel unter Kanzler Olaf Scholz (SPD) kam zuletzt auf 56 Prozent der Sitze.

Nachdem Friedrich Merz am gestrigen Dienstag im ersten Wahlgang gescheitert war, wurde die Bundestagssitzung für mehrere Stunden unterbrochen. Es folgten lange Beratungen der Fraktionen. Schließlich einigten sich Union, SPD, Grüne und Linke auf einen zweiten Durchgang noch am selben Tag. Merz erreichte die nötige Mehrheit und wurde am frühen Abend im Bundestag vereidigt. Es folgten die Ernennung und Vereidigung der neuen Bundesminister sowie eine erste Kabinettssitzung.

Fazit: Dass Friedrich Merz erst im zweiten Wahlgang zum Bundeskanzler gewählt wurde, ist ein Novum in der Geschichte der Bundesrepublik. Alle neun Bundeskanzler vor ihm erhielten bereits im ersten Anlauf die nötige absolute Mehrheit aller Bundestagsabgeordneten. Dass einzelne Abgeordnete aus den eigenen Reihen gegen den Kanzlerkandidaten gestimmt haben, ist jedoch nichts Neues. Historisch gesehen hat es solche Abweichler fast immer gegeben, so z.B. auch bei sämtlichen Kanzlerwahlen von Angela Merkel. Wie Gabor Steingart in unserer Sendung jedoch richtig sagte, haben sich diese Gegenstimmen diesmal aufgrund knapper Mehrheitsverhältnisse gravierender ausgewirkt als bei früheren Wahlen, sodass ein zweiter Wahlgang notwendig war.

Stand: 07.05.2025

Autor: Tim Berressem