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Schriftstellerin, Feministin, Prophetin

Sofi Oksanen über Putins Krieg gegen die Frauen

PlayPortät Sofi Oksanen
Sexuelle Gewalt als Kriegswaffe | Video verfügbar bis 28.01.2025 | Bild: Toni Harkonen

Jeder Krieg ist ein Krieg gegen Frauen. Auch derzeit wird sexuelle Gewalt von Russland systematisch als Kriegsstrategie in der Ukraine eingesetzt. So schreibt es Sofi Oksanen in ihrem sorgfältig recherchierten Essay "Putins Krieg gegen die Frauen", der zum zweiten Jahrestag des völkerrechtswidrigen russischen Angriffs auf die Ukraine erscheint. ttt hat die Starautorin in Helsinki getroffen.

Helsinki. Bitterkalte Heimat von Sofi Oksanen. Schriftstellerin, Feministin. Russlandkennerin. In ihrem aktuellen, akribisch recherchierten Essay analysiert sie den russischen Angriffskrieg in der Ukraine als Geschlechterkrieg.
"Sexuelle Gewalt ist wahrscheinlich eine der ältesten oder die älteste Kriegswaffe überhaupt", stellt Sofi Oksanen fest, "aber Russland setzt sie auf eine besondere Art und Weise ein, nämlich als taktische Waffe. In der Ukraine werden Vergewaltigungen, sexuelle Gewalt und Missbrauch benutzt, um den Widerstand der Ukrainer zu brechen, und auch als ein Instrument des Völkermords."

Erfahrungen der Esten

Die Schriftstellerin Sofi Oksanen im Schnee in Helsinki.
Die Schriftstellerin Sofi Oksanen in Helsinki. | Bild: WDR

Oksanen ist aufgewachsen an der Nahtstelle zwischen Ost und West: Der Vater Finne, die Mutter stammt aus Estland, das 1940 von der Sowjetarmee besetzt wird. Jahre der Gewaltherrschaft und des Terrors, die eigene Großtante wird in einem sowjetischen Folterkeller vergewaltigt. Traumata die bis heute nachwirken – nicht nur in ihrer Familie, weiß Oksanen: "Alle Esten wissen, was Besatzung bedeutet und fühlen deshalb eine große Nähe zu den Ukrainern. Russland bedroht ihre Existenz, und auch die Esten fühlen sich bis heute von Russland bedroht. Es gibt keine einzige estnische Familie, die nicht über schmerzhafte Erfahrungen während der Zeit der Okkupation zu berichten weiß."  

Die russische Kriegsführung

Oksanen spannt den Bogen vom sowjetischen Erbe eines gewaltsamen Patriotismus bis in die Gegenwart. Die Täter der Gräueltaten von Butscha. Sie werden in Russland als Helden gefeiert. In der Ukraine wiederholten sich die Muster sowjetischer Kriegsführung: eine spezifische Form der Kolonisierung – so Oksanen. Gezielt setzt der Kreml in der Ukraine Kindesentführungen als Kriegswaffe ein. Und Vergewaltigung.
"Vergewaltigung als Kriegswaffe einzusetzen ist nur möglich, wenn man den Feind nicht als Menschen sieht. Die russische Propaganda hat schon vor langer Zeit begonnen, die Ukrainer zu enthumanisieren. Und seit Beginn des Krieges 2014 und der Invasion 2022 verstärkte sich dieser Prozess", hat Sofi Oksanen beobachtet.
Mit den historischen Ursachen, Mechanismen und Auswirkungen sexueller Gewalt in aggressiven Regimen beschäftigt sie sich schon lange. In ihrem Essay zeigt sie auch auf, wie Putin Frauenfeindlichkeit strategisch nutzt, um nach innen seine Macht zu sichern. "In Putins Regime werden die so genannten traditionellen Werte hochgehalten", erklärt sie, "in Wahrheit sind das keine Werte, sie sind schlichtweg frauenfeindlich. Die Rolle der Frau in Russland ist reduziert auf ihre biologischen Funktionen, auf ihr Geschlecht."

Geschlechtsspezifische Propaganda

Das Buch "Putins Krieg gegen die Frauen" von Sofi Oksanen.
"Putins Krieg gegen die Frauen" von Sofi Oksanen. | Bild: WDR

Der Kreml habe seine Propaganda geschlechtsspezifisch ausgerichtet, mobilisiere damit auch die Heimatfront. Oksanen zitiert in ihrem Buch aus Telefongesprächen russischer Frontsoldaten mit ihren Ehefrauen, abgefangen vom ukrainischen Geheimdienst. "Russische Frauen und die Mütter und Ehefrauen von Soldaten wissen genau, was ihre Männer und Söhne in der Ukraine anrichten. Sie unterstützen die Soldaten, ermutigen sie sogar zu sexueller Gewalt und genießen die Vorstellung, dass Ukrainer gefoltert werden. In den Augen des Kreml entsprechen diese Frauen dem Ideal einer patriotischen russischen Frau", so Oksanen.

Rechtliche Aufarbeitung

Von Anbeginn des Krieges dokumentiert die Ukraine russische Kriegsverbrechen, Befehlsketten werden ermittelt, nach Tätern gefahndet, Gerichtsverfahren angestrengt. Dabei sei die rechtliche Aufarbeitung sexualisierter Gewaltverbrechen besonders komplex, sagt Oksanen, auch weil nicht alle Opfer die Taten anzeigten: "Natürlich hoffe ich, dass so viele Opfer wie möglich offen darüber sprechen, was ihnen angetan wurde. Aber die Verantwortung für einen öffentlichen Diskurs sollte nicht auf ihren Schultern lasten. Wir alle sollten über diese Verbrechen sprechen, und darüber, wie man sie künftig verhindern und damit umgehen kann."

Sofi Oksanen – die düstere und doch so hellsichtig-wachsame Stimme des Nordens! Kaum jemand in Finnland schreibt so politisch wie sie an den Schmerzlinien der Geschichte entlang, um die Gegenwart zu verstehen und in die Zukunft zu blicken.  

Autorin: Hilka Sinning

Buchtipp

Sofi Oksanen: Putins Krieg gegen die Frauen
Kiepenheuer & Witsch, Preis: 24 Euro
Erscheinungstermin: 8. Februar 2024

Stand: 28.01.2024 19:22 Uhr

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Westdeutscher Rundfunk
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