So., 23.07.23 | 23:35 Uhr
Das Erste
Blütenstaub und Bienenwachs: Künstler Wolfgang Laib
Hier beginnt etwas. Im Blühen wird das Leben weitergetragen. Frühling für Frühling. In einem ewigen Kreislauf. Die Welt wird alt und wieder jung. Und der Künstler sitzt in der Wiese und sammelt die Ursubstanz. Blütenstaub. "Ich hab mich immer gefragt: Andere Menschen leben doch auch hier", wundert sich Wolfgang Laib. "Aber niemand hat angefangen Blütenstaub zu sammeln. Der Blütenstaub ist ja die Essenz und der männliche Samen. Der potentielle Beginn der Vegetation, der Pflanzen und der Bäume. Das ist die Essenz des Lebens."
Laib arbeitet mit einfachen Dingen, sagt er
Ein strahlender Teppich aus Blütenstaub. Millionen von Pollen. Millionen von potentiellen fruchtbaren Welten. Auf der ganzen Welt breitet Wolfgang Laib solche Felder aus. Es ist jedesmal auch eine Zeremonie. Der Stoff ist kostbar, wesentlich. Es dauert Jahre, solche Mengen zu sammeln. Es steckt auch ein Menschenleben darin. Geduld, Hingabe, Demut.
"Es sind ja ganz einfache Dinge wie Milch, Blütenstaub, Reis. Nahrungsmittel", sagt Laib. "Ganz einfache Dinge, die auch schon vor 1000 oder 5000 Jahren da waren. Und ich denke, das ist eine große Herausforderung für das Jetzige, was wir jetzt tun. Und wo wir jetzt stehen."
Laib ist ein Weltbürger – ohne Handy und E-Mail
"Reisfeld". Eine Handvoll Reis. 10.000 davon. Jedes Korn ein Beginn. Laib stellt mesopotamische Stufentempel her, wie in der Stadt Ur. Anfang und Ende. Der Fluss des Lebens.
Wolfgang Laib lebt abwechselnd in Indien, in Süddeutschland und New York. Er ist ein international agierender Künstler, dessen Ausstellungen rund um den Globus gefeiert werden. Ein Weltbürger, der der Welt zeitweise abhanden kommt. Kein Handy. Keine Mails.
Steckt die europäische Kultur in einer Sackgasse?
"Wenn man meint, als Individuum könnte man alles tun, ist das ein großes Missverständnis und führt zu dem, was wir heute haben. In den meisten Kulturen der Menschheit war es eher umgekehrt, dass man eben versucht, ein Teil von einem größeren Ganzen zu sein. Und man selbst ist dann nur irgendwie dabei, aber nicht der große Held. Die europäische Kultur hat sich, so wie ich das sehe, in eine Sackgasse hineinmanövriert und es sind großartige Dinge passiert. Vor allem auf der materiellen Ebene. Aber nach der materiellen Ebene ist es eine Tragödie."
"Bramanda". Wörtlich kosmisches Ei. Solche Steine sollen den Beginn des Kosmos darstellen. 1972 fing Laib damit an. Er wollte nicht mehr Arzt sein. Seit Jahrzehnten macht er in ritueller Wiederholung das Gleiche. Wie ein aus der Zeit gefallener Heiliger. Er streift über Wiesen, sammelt Blütenstaub oder schleift weiße Marmorsteine glatt, mit einer zarten Vertiefung, in der er eine dünne Schicht Milch auffängt. Schon auf der lauten Kunst-Biennale 1982 befüllte er einen seiner stillen weißen "Milch-Steine". Warum? Milch. Verderbliche Materie mit einem Schimmer des Immateriellen.
Blütenstaub ist zeitlos
"Für einen anderen Körper" ist ein Raum aus Bienenwachs, in den man nur alleine eintreten kann und nichts tut, als Duft einatmen. Es gibt auf der ganzen Welt sieben davon. Abstrakte Häuser aus Marmor, umgeben von Reis, archaisch geformte Wachshäuser. Es ist diese radikale Einfachheit, die den Betrachter so seltsam berührt. Eine Ausgrabung von Essenz. Schwere Wachsschiffe zwischen Himmel und Erde. Titel: "Du wirst woanders hin gehen". Der Mensch ist Passagier oder eine Brücke.
Beharrlich versucht da einer, über die Zeit hinausgreifen. "Kunst aus dem 16. Jahrhundert, die nur abgebildet hat, was wichtig war im 16. Jahrhundert, das interessiert im 20. oder 21. Jahrhundert überhaupt niemanden", sagt Laib. "Und das ist der Punkt, an dem ich eben denke oder hoffe: ein Blütenstaub, der hat das. Ein Blütenstaub, das ist nicht nur wichtig für das 20. Jahrhundert oder 21. Jahrhundert. Oder auch ein Milchstein. Der hat das."
AUSSTELLUNG
Wolfgang Laib. The Beginning of Something Else
Kunstmuseum Stuttgart
bis 5. November 2023
Buch im Hirmer Verlag
FILM
"Wolfgang Laib - Here, Now and Far Beyond"
D 2023
Regie: Maria Anna Tappeiner
Autorin: Angelika Kellhammer
Stand: 23.07.2023 20:09 Uhr
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