So., 21.09.25 | 23:05 Uhr
Das Erste
Auftritt nur nach Bekenntnis?
Der Kunst- und Kulturbetrieb nach der Ausladung von Lahav Shani
In Belgien ausgeladen, in Berlin gefeiert: Das Sonderkonzert der Münchner Philharmoniker mit Dirigent Lahav Shani war musikalisches Highlight und politisches Statement zugleich. Dass die Veranstalter in Gent dem jüdischen Künstler ein Bekenntnis abringen wollten, sorgte hierzulande für Empörung. Auch PEN Berlin mit Sprecher Deniz Yücel positionierte sich klar - für Kunst- und Meinungsfreiheit ohne Wenn und Aber.
In einer Demokratie hat man das Recht nicht mitzumachen

"Das ist ein Angriff auf die Meinungsfreiheit", sagt Deniz Yücel vom PEN Berlin, "denn Meinungsfreiheit bedeutet auch das Recht, sich zu Dingen, zu denen ich mich öffentlich nicht äußern möchte, mich auch nicht äußern zu müssen. Also mitsingen und mitklatschen und mitschunkeln muss man in totalitären Regimen. Zu einer Demokratie gehört auch das Recht, und zur Meinungsfreiheit gehört auch das Recht, die Klappe zu halten."
Gecancelt wegen ihrer kritischen Haltung: Candice Breitz
In Deutschland werden derzeit Kulturschaffende ausgeladen, weil sie gerade nicht die Klappe halten. Die in Berlin lebende, südafrikanische Künstlerin Candice Breitz hat ttt in Graz getroffen. Beim Festival "Steirischer Herbst" stellt sie eine Arbeit aus, die sie der Holocaust-Überlebenden Esther Bejarano widmet. Breitz ist Jüdin - und kritisiert die israelische Kriegsführung in Gaza scharf. Deshalb wurde ihr unter anderem eine lange geplante Ausstellung in Saarbrücken abgesagt.

Die Künstlerin Candice Breitz meint dazu: "Meine Haltung hat sich nicht geändert - sie ist nur für große Teile des deutschen Mainstreams inzwischen untragbar geworden. Seit dem 7. Oktober spüre ich einen neuen Eifer, eine Selbstgerechtigkeit, mit der sich viele in Deutschland die Deutungshoheit anmaßen - und jüdische Stimmen verurteilen, die nicht zum Selbstbild von Deutschland nach dem Holocaust passen."
Jüdische Menschen in Deutschland - innerlich zerrissen und in Angst
Auch der jüdisch-israelische Schriftsteller Tomer Dotan-Dreyfus, ebenfalls zu Gast in Graz, kritisiert die Politik unter Netanyahu und solidarisiert sich mit den palästinensischen Opfern des Krieges. In seiner deutschen Wahlheimat wird er dafür immer wieder angefeindet: "Was wir als jüdische Personen in Deutschland erleben, die sich kritisch gegenüber Israel äußern", sagt Dotan-Dreyfus, "ist erstmal eine große Angst, Arbeit zu verlieren, Verträge zu verlieren, das passiert auch die ganze Zeit."

Tomer Dotan-Dreyfus versteht es als seine Aufgabe, sich zu positionieren, gerade wegen seiner Herkunft. Sein in diesen Tagen erscheinendes Buch "Keinheimisch - Kindheit in Israel, Leben in Deutschland" (Ullstein Verlag) erzählt von seiner Zerrissenheit. "Was dort gerade in Gaza passiert, passiert angeblich in meinem Namen. Und deshalb, ich finde, es ist auf jeden Fall meine Verantwortung, zu sagen: Ey, bitte nicht in meinem Namen. Ich bin tatsächlich in einem Haus mit drei Holocaust-Überlebenden als Großeltern aufgewachsen. Und das sind ihre Geschichten und ihre Erlebnisse, die mich dazu geführt haben, mich klar und laut gegen Kriegsverbrechen und gegen Genozid zu äußern", so Tomer Dotan-Dreyfus.
Zwischen Doppelmoral und Antisemitismus
Doch uns Deutschen, so scheint es, fällt es schwer, jüdische Stimmen zu akzeptieren, die der "Staatsräson" widersprechen. "Der deutsche Mainstream ist nicht bereit, jüdische Vielfalt anzuerkennen und zu akzeptieren", findet Candice Breitz. "Natürlich herrscht unter Jüd*innen ein breites Spektrum an politischen Haltungen. Deshalb war die Reaktion auf den Fall Lahav Shani so bemerkenswert: Denn über viele andere Vorfälle der letzten zwei Jahre, bei denen progressive jüdische Denker*innen ausgeladen wurden, gab es kaum Aufregung in der deutschen Öffentlichkeit", so die Künstlerin.

Offenbart die berechtigte Kritik an der Ausladung Lahav Shanis also eine Doppelmoral? "Entweder ist es antisemitisch, eine jüdische Person in Deutschland auszuladen, oder ist es nicht", findet Tomer Dotan-Dreyfus. "Es kann nicht nur gelten, wenn die politische Meinung dieser Person so und so ist. Das ist an sich antisemitisch, würde ich sagen. Das heißt, von jüdischen Personen wird eine bestimmte politische Meinung erwartet. Und das ist an sich schon antisemitisch."
Wo sind die Räume für den Dialog?
Deniz Yücel findet: Wer Künstler einlade, dürfe eine kritische Auseinandersetzung nicht scheuen. Doch Kultureinrichtungen fehle es oft an Mut. "Die Aufgabe von Kultur ist es, auch in schwierigen Zeiten, auch in Kriegssituationen, Räume des Gesprächs und des Austausches offen zu halten. Auch das gehört zu den Aufgaben von Kultur. Ansonsten kann man Kultur auch ganz dicht machen und dann machen alle nur noch Politik. Aber ich glaube, das wäre nicht der richtige Weg." Kultur braucht keine Einstimmigkeit. Sie lebt vom Widerspruch und vom Zusammenspiel - auch dann, wenn nicht alle dieselbe Sprache sprechen.
(Beitrag: Yasemin Ergin)
Stand: 21.09.2025 19:13 Uhr
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