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Moderne Familienpolitik?

Warum die Debatte über Elterngeld, Kindergrundsicherung und Ehegattensplitting zeigt, dass Politik und Gesellschaft noch viel zu tun haben

PlayZwei Mütter mit Kind
Moderne Familienpolitik? – Warum noch viel zu tun ist  | Video verfügbar bis 06.08.2024 | Bild: hr

Elterngeld. Kindergrundsicherung. Ehegatten-Splitting. Endlich wird über Kinder und Familien diskutiert. Die politischen Lager ringen öffentlich um ein Thema, das sonst wenig Aufmerksamkeit bekommt.  

„Alle würden sagen: Familie ist ganz wichtig. Alle würden sagen: Wir tun alles für Kinder. Wenn man dann sozusagen hinter die Bühne tritt und sich anschaut, wie ernsthaft es eigentlich verhandelt wird, finde ich, hat die Familie keinen großen Stellenwert“, stellt Soziologin Jutta Allmendinger fest. Wie viel ist uns also die nächste Generation wert und wieviel die Vereinbarkeit von Beruf und Familie?

„Kinder werden als Privatsache deklariert“

Auch Publizistin Teresa Bücker hat sich dazu Gedanken gemacht: „Wir haben gerade einen Fehler im öffentlichen und politischen Diskurs, in der die Entscheidung für Kinder mehr und mehr als Privatsache deklariert wird und überhaupt nicht mehr anerkannt wird, dass Kinder ein selbstverständlicher Teil der Gesellschaft sind.“

Diese Entscheidung hat die Debatte angefacht: Kein Elterngeld mehr ab einem zu versteuernden Einkommen über 150.000 Euro. Die Familienministerin Lisa Paus will bei den Topverdienern kürzen. Anlass ist eine Sparvorgabe des Finanzministers. Für die Ministerin ist das die am wenigsten schmerzhafte Kürzung. Gleichstellungspolitisch sei das nicht gut.

„Leider ist es so, dass derzeit in dieser Einkommensgruppe nur 17 Prozent der Väter auch tatsächlich die Vätermonate in Anspruch nehmen. Also eher eine geringe Gruppe. Es ist davon auszugehen, dass sich das verschlechtert. Dass es womöglich jetzt – wenn das Elterngeld gerade für diese Paarkonstellationen wegfällt – für Frauen schlechter wird, weil eben der Partner sagt, es gibt keinen Anreiz mehr“, befürchtet Familienministerin Lisa Paus. „Und das hat womöglich dann auch schlechte Vorbildwirkung in den entsprechenden Betrieben, weil wir davon ausgehen, dass Menschen, die in der Höhe verdienen, wahrscheinlich eben auch in Führungspositionen sind“, sorgt sich die Familienministerin.

Eine Petition gegen die Elterngeldkürzung

Auch in Topverdiener-Familien sind es meist die Frauen, die weniger verdienen und in Abhängigkeit geraten könnten. Das kritisiert auch diese Petition. Sie erhält in kurzer Zeit über 600.000 Unterschriften, obwohl nach Schätzungen nicht mal fünf Prozent aller Paare betroffen wären.

Laut der Publizistin Teresa Bücker entladen sich Wut und Verunsicherung von Familien nun über dieses symbolische Thema. „Ganz viele tragen noch die Erfahrung der Pandemie mit sich herum oder spüren noch die Nachwirkungen. Vielleicht bei Kindern, die noch Lernschwierigkeiten haben, die psychisch erkrankt sind. Und jetzt sehen wir eine Sparmaßnahme bei Familien, ohne dass die Benachteiligung in der Pandemie jemals ausgeglichen worden ist. Das heißt, wenn jetzt Politik passiert, die Familien wieder etwas nimmt, dann reagieren die sensibler auf alle Einsparungen im Familienbereich“, sagt die Publizistin.

Das Bild von Frauen in unserer Gesellschaft

Wo stehen wir in Sachen Familienpolitik und Gleichberechtigung? Vieles haben wir erreicht: Gerade eine Kindergelderhöhung und der Ausbau der KITA-Betreuung. International stehe Deutschland aber nicht gut da, außer beim Elterngeld, sagt die Soziologin Jutta Allmendinger. Sie sieht einen Normenkonflikt, vor allem für Frauen. Denen sowohl verübelt werde nur Mutter zu sein als auch auf die Karriere zu setzen.

„Wir machen viele Untersuchungen, wo wir sehen, dass Frauen, die zwölf Monate in Elternzeit gehen, immer noch wesentlich respektierter sind als Frauen, die nur zwei Monate gehen. Die werden dann als überambitioniert und übermotiviert dargestellt. und das ist für Frauen eine no-win-Situation. Man weiß überhaupt nicht, wie man leben soll. Wie auch immer man das macht, ist es falsch in einer gewissen Weise“, analysiert Allmendinger.

Heute teilen sich mehr Paare Erwerbs- und Sorgearbeit auf

Westdeutschland in den Fünfzigern: Wertvorstellungen und Strukturen passen zusammen, die Frau kümmert sich um Kinder und Haushalt, der Mann ums Geld. Das Ehegattensplitting wird eingeführt, das steuerlich die Rollen begünstigt.

Heute teilen sich mehr Paare Erwerbs- und Sorgearbeit auf. Die politischen Instrumente passen nicht ganz zur Lebenswirklichkeit. Kommt die Gleichberechtigung, weil Menschen sie als Wert begreifen? Oder sind politische Maßnahmen ausschlaggebend?

Das Familienleben organisieren hauptsächlich Frauen

Väter arbeiten eher Vollzeit, die meisten Mütter Teilzeit. Studien zeigen: das Familienleben organisieren hauptsächlich Frauen. Während die gleichen Paare vor dem Kinderkriegen planten, alles zu teilen, sieht die Realität dann anders aus.

„Also dahingehend, dass man dann auf einmal verhandelt: Was ist denn das meiste fürs Haushaltseinkommen? Was ist denn da das Beste? Dann ist der Mann meistens so zwei, drei Jahre älter und dann sagt er, dass sein Einkommen, das sei, was sie brauchen“, erzählt die Soziologin Jutta Allmendinger. „Und dann geht die Frau ein bisschen zurück, dann unterscheiden sich die Elternmonate, dann kommt dieses Splitting mit hinein und die kostenlose Mitversicherung“, führt Allmendinger aus.

Besonders wichtig ist eigenes Geld, sind eigene Rentenbeiträge, wenn Paare sich trennen. Das Armutsrisiko Alleinerziehender ist dreimal so hoch wie das anderer Familien mit Kindern.

Das fifty-fifty-Modell bedeutet mehr Aufwand

Teresa Bücker organisiert die Betreuung ihrer zwei Kinder gleichberechtigt, lebt in einer Patchworkfamilie. Sie weiß, wie leicht Familien am Alltag scheitern. „Paare, die ein fifty-fifty-Modell versuchen, das ist mit wesentlich mehr Aufwand verbunden. Das ist unbequem. Das heißt, ich kann auch Paare verstehen, die daran scheitern oder es nicht wollen, weil das traditionelle Modell leichter ist. Aber da sollte Politik ansetzen und es eben so ermöglichen, dass sich alles gerecht zu teilen in der Partnerschaft, das leichte Modell ist.

„Alle Zeit“ heißt das Buch von Teresa Bücker, in dem sie zu dem Schluss kommt, dass Gleichberechtigung nur erreicht werden könne, wenn Zeit in der Gesellschaft neu verteilt wird. Es brauche neue, größere Maßnahmen: Damit alle ähnlich viel zu Hause und in ihren Berufen arbeiten könnten.

„Die familien- und gesellschaftspolitischen Diskussionen, die wir gerade haben, die sind wirklich eindimensional. Und mich macht das sehr wütend. Wir haben die Infrastruktur nicht bei Kitas oder bei der Pflege. Das heißt, es ist komplett unrealistisch für Deutschland, dass ab morgen alle Erwachsenen in Vollzeit arbeiten. Das heißt, wir müssten eigentlich darüber diskutieren, dass alle ein bisschen weniger arbeiten und sich Sorgearbeit gerechter verteilen“, äußert sich die Publizistin.

Entscheidend ist eine Ganztagsbetreuung

Ein entscheidendes Thema bleibt die fehlende Ganztagsbetreuung. Für armutsgefährdete Kinder ist die Kindergrundsicherung das, was ihre Chancen verbessern und für mehr soziale Gerechtigkeit sorgen soll. Das ist ein erklärtes Projekt dieser Bundesregierung.12 Milliarden Euro forderte die Bundesfamilienministerin dafür. Finanzminister Christian Lindner will deutlich weniger ausgeben. Die Kindergrundsicherung stand auf der Kippe.

Familienministerin Lisa Paus erklärt: „Auf der Strecke haben wir tatsächlich über das Finanzierungsthema immer intensiv miteinander gerungen, was völlig klar ist. Das zentrale sozialpolitische Projekt, wie es in dem Koalitionsvertrag verankert war, das kostet auch Geld und da haben eben unterschiedliche Koalitionspartner unterschiedliche Prioritäten gesetzt.

Wie viel sind uns Kinder und Gleichberechtigung wert?

Jetzt wird darüber verhandelt, wie viel Geld für die Kindergrundsicherung in die Hand genommen wird. Es stellt sich die Frage: Wie viel sind uns Kinder, soziale Gerechtigkeit, Gleichberechtigung in dieser Gesellschaft wert? Das, was viele von moderner Familienpolitik erwarten, ist bislang noch nicht erfüllt.

Die Soziologin Jutta Allmendinger hat eine klare Vorstellung: „Die Vision ist jene einer tatsächlich gleichberechtigten Partnerschaft. Die Vision ist jene, dass Mütter wie Väter sich um die Kinder kümmern, um die Älteren kümmern, um Ehrenamt kümmern. Unsere Vision ist, dass wir ein Bildungssystem haben, wo wir keine Verlierer mehr haben.“

Die Publizistin Teresa Bücker ergänzt: „Das wäre auch mit der Haltung verbunden, dass alle Kinder gleich viel wert sind. Dass Kinder Bürgerinnen mit eigenen Rechten sind, dass sie keine Anhängsel von Eltern sind, die zufällig das Schicksal ihrer Eltern teilen, sondern dass wir uns in einer Gesellschaft gut um alle Kinder kümmern wollen.“



Beitrag: Katja Deiß

„Alle_Zeit. Eine Frage von Macht und Freiheit“
Teresa Bücker
Ullstein Verlag, 2022
22 Euro

Stand: 07.08.2023 10:43 Uhr

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