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Männlichkeit in der Krise?

Das Debattenbuch „Oh Boy“ über das verunsicherte Geschlecht

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Männlichkeit in der Krise? – Das Debattenbuch „Oh Boy“  | Video verfügbar bis 06.08.2024 | Bild: hr

Männlichkeit. Was bedeutet das heute? Das tradierte, patriarchale Rollen-Verständnis, das lange galt, bekommt immer mehr Gegenwind. Heute kann Mann ganz unterschiedlich mit seiner Identität umgehen. Das war aber nicht immer so.

Die drei Autor:innen vom Sammelband „Oh Boy“ blicken in die Vergangenheit zurück. Eine:r von ihnen ist der Mitautor:in und Mitherausgeber:in Donat Blum. Blum erinnert sich: „Männlichkeit ist Herkunft, das ist das, was uns geprägt hat. Auf diesem Bild, da sehe ich eigentlich einen sehr feinen, sensiblen Jungen. Und das wurde immer mehr überschüttet. Das wird immer mehr zugeschrieben mit du musst stark sein, du musst dir mit den Ellbogen deinen Weg erkämpfen.“

Auch der Autor Dincer Gücyeter denkt zurück an vergangene Zeiten: „Auch in meiner Familie gab es diese strenge Aufteilung. Du bist der Mann und von einem Mann hat man immer wieder diese Potenz erwartet, diese Männlichkeit. Aber was kann ich denn dafür, wenn ich diese Muskeln nicht habe? Ich ticke nun mal ganz anders. Ich kann einfach diese Rolle nicht bedienen.“

Der Mitautor Peter Wawerzinek ergänzt: „In der Generation, wo ich aufgewachsen bin, da war alles klar modifiziert. Männlich, weiblich, schlapp, stark, umgänglich, zurückhaltend.“

Der Umgang mit männlichen Zuschreibungen

Wie umgehen mit männlichen Zuschreibungen? Wie wurden wir überhaupt zu Männern „gemacht“? Der Sammelband „Oh Boy“ geht diesen Fragen nach. Entstanden sind literarische, teils autobiografische Kurzgeschichten von Schreibenden unterschiedlichen Alters.

Mitherausgeber:in Donat Blum beschreibt die eigene Kindheit in der Schweizer Kleinstadt unter dem Eindruck, als Mann nicht zu genügen. Blum ist non-binär. „Schon immer fand ich das komisch zu sagen, ich bin ein Mann. Ich konnte, dann sagen ich bin ein schwuler Mann. Das ging so etwa auf“, erzählt Blum. „Aber es war für mich wichtig, dieses Adjektiv hinzuzufügen, um klarzumachen, dass ich eigentlich nicht Teil von diesem toxischen Teil sein möchte, von diesem oft sehr destruktiven, sehr gewaltvollen. Männlichkeit ist für mich ein sehr einengendes Konzept“, betont Autor:in Blum.

Ein Rückfall in den Männlichkeitswahn?

Gewalt, Krieg, Dominanz: auch das wird mit althergebrachter Männlichkeit assoziiert. Der Krieg in der Ukraine schafft unweigerlich neue Bilder der Hypermaskulinität.

Autor Peter Wawerzinek findet: „Das momentan ist ein absoluter Rückfall in den Männlichkeitswahn und ich habe oft das Gefühl, dass dieser Nationalismus – der jetzt auch europaweit geritten wird – auch Bestandteil von Männlichkeit ist. Also ich glaube, dass da wieder so eine “Strammisierung“ der Gesellschaft stattfindet.“

Peter Wawerzinek, bekannt geworden mit einem Roman über seine Kindheit als Waise in Kinderheimen in der DDR, hat Männer vor allem als abwesend erlebt.

Das Gefühl der realen Bedrohung

Die Debatte um den Mann – sie hat auch mit gesellschaftlichen Entwicklungen zu tun. Während Frauen und queere Menschen mehr Gleichberechtigung durchgesetzt haben, wollen frauenverachtendeInfluencer wie Andrew Tate und Reaktionäre das Rad zurückdrehen. Auch Gewalt gegen Frauen ist nach wie vor Alltag. Woher kommt dieser Backlash?

Kulturwissenschaftlerin Mithu Sanyal hat das Nachwort zu „Oh Boy“ geschrieben. Männern werde gesellschaftlich beigebracht, hart zu sein. Wenn sie das sind, ist es auch wieder falsch. „Ich kriege das – gerade weil mir relativ viele Leute schreiben – online schon mit, dass viele Männer sich bedroht fühlen. Und ich glaube, es ist tatsächlich auf einer gewissen Ebene eine reale Bedrohung, also im Sinne von Selbstbild. Man muss sich überlegen: Wer bin ich? Alles, was ich gelernt habe, ist plötzlich viel, viel weniger wert. Und das muss man auch ernst nehmen. Für Männer ist es, glaube ich, tatsächlich eine wirklich harte Zeit“, erklärt die Kulturwissenschaftlerin.

Der Autor Peter Wawerzinek sagt zu den Herausforderungen ergänzend: „So Öffnungen sind auch aufgrund der Vielfalt der Möglichkeiten durchaus dann schwierig, weil es dann große Grenzbereiche gibt. Das hat sich jetzt so aufgefächert. Und ich glaube, das ist sehr oft sich Leute dann auch zu Recht fragen, in welche Richtung entwickle ich mich, weil auch sehr viele Richtungen angeboten sind und dann sehr viele Urteile auf dich einstürzen.“

Kommt eine neue Generation?

Dincer Gücyeter – der aktuelle Buchpreisträger – ist Kind türkischer Gastarbeiter, reist regelmäßig in die Türkei. In „Oh Boy“ schreibt er über eine Männerfreundschaft, über Macht und über eine Kultur des Schweigens. „Besonders das Schweigen ist immer noch in der Gesellschaft wie ein Auftrag. Und wenn man über etwas redet, was einen stört, dann ist das schon fast eine Sünde“, nimmt der Autor wahr. „Deshalb ändert sich dort nichts. Auf der anderen Seite, auch dort in der Türkei kommt eine ganz neue Jugend, eine ganz neue Generation, die anders tickt, die anders handeln möchte. Aber das wird sich nicht von heute auf morgen ändern“, sagt Gücyeter.

„Oh Boy“ erzählt von Gesprächen, die nicht geführt und Gedanken, die nicht laut ausgesprochen werden und die zeigen, dass es nicht nur eine Männlichkeit gibt.

Donat Blum wünscht sich: „Was ich am schönsten fände, wäre, wenn wir uns nicht mehr so stark oder vielleicht auch gar nicht mehr über die Kategorie Gender, soziales Geschlecht definieren würden bzw. müssten. Weil ich sehe nicht sehr viele bzw. bis zu gar keine Vorteile in dieser Kategorisierung, außer dass sie gewissen Leuten mehr Macht und gewissen anderen Leuten weniger Macht gibt.“

Was „Oh Boy“ gelingt, ist ein literarisches und dadurch freieres Nachdenken über Männlichkeit.


Beitrag: Celine Schäfer

„Oh Boy – Männlichkeit*en heute“
Donat Blum und Valentin Moritz
Kanon Verlag, 2023
22 Euro

Stand: 06.08.2023 23:35 Uhr

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