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Heimat, Rassismus und die Sehnsucht nach Liebe: Stephan Anpalagan über die tiefen Wunden der Migrationsgesellschaft

PlayEs sind Kuckucksuhren. Es ist ein Hinweis auf die Zeit in der wir gelebt haben und noch immer leben. Die Mitte der Gesellschaft als Sehnsuchtsort. Der Autor Stephan Anpalagan beschreibt in seinem neuen Buch, wie schwierig es sein kann, es in diese Mitte zu schaffen. Es geht um Heimat, Rassismus und die Sehnsucht nach Liebe.
Heimat, Rassismus und Liebe | Video verfügbar bis 26.11.2024 | Bild: hr

Stephan Anpalagan, Theologe und Autor. Geboren ist er in Sri Lanka, aufgewachsen in Deutschland. Seine Themen: Identität, Heimat, Leitkultur. Doch fragt man ihn, wer er ist, sagt er: „Zuallererst bin ich Wuppertaler.“

Zugehörigkeit und Ausgrenzung: Die Mitte der Gesellschaft als Sehnsuchtsort und ultimative Kampfzone - davon erzählt sein Buch. Und es geht um eine große Kränkung. „Dass es so viele Menschen gibt, die dieses Land lieben, von ganzem Herzen lieben. Die mitfiebern, wenn die Fußballnationalmannschaft spielt. Die sich ärgern, wenn Deutschland beim Eurovision Song Contest wieder mal den letzten Platz macht. Aber dieses Land liebt sie nicht zurück. Und dieser Liebeskummer, der dadurch entsteht, dass du etwas liebst, dass du Sehnsucht hast, dass du ankommen möchtest, dass du Gemeinsamkeiten schaffen möchtest, aber diese Gemeinsamkeiten werden einfach nie anerkannt. Über diesen Liebeskummer habe ich geschrieben“, beschreibt der Autor.

Die schmerzhaften Etappen deutscher Migrationsgeschichte

Anpalagan erzählt von den schmerzhaften Etappen deutscher Migrationsgeschichte. Angefangen bei den Gastarbeitern, die man als billige Arbeitskräfte zunächst willkommen hieß, dann aber zum Problem erklärte – und am liebsten gleich wieder zurückgeschickt hätte. „Ich glaube, der „Problem-Ausländer“ ist erst mal nur so eine Schürze, ist ein Kittel, den wir unterschiedlichen Menschen umhängen. Und spannend ist, wenn man sich gar nicht die Türken anguckt oder die Araber oder die Muslime, sondern die Menschen, die diesen Kittel vorher getragen haben. Und das waren nämlich die Italiener“, sagt Stephan Anpalagan.

Dass die vorher genauso diskriminiert wurden, habe man längst vergessen. Für Anpalagan sind das: Kontinuitäten. Neue Sündenböcke, der gleiche Hass, der in den 1990er Jahren eskalierte – in Hoyerswerda, Rostock, Mölln. Es ist die Zeit seiner Jugend.  

Stephan Anpalagan erinnert sich: „Mein erster Schnittpunkt war tatsächlich der Anschlag auf das Wohnhaus der Familie Genç in Solingen. Ich habe diese Bilder, die sich eingebrannt haben: die verrußten schwarzen Fenster in dem Haus, die kleinen Särge, wo die Kinder aufgebahrt sind, umhüllt mit der türkischen Flagge. Und das hat etwas gemacht. Ich glaube, das hat mit ganz vielen Migrantinnen und Migranten in Deutschland etwas gemacht. Und zwar hat es diese Feststellung zementiert, dass man einfach nicht dazugehört, dass man immer anders bleiben wird.“

Wann ist man ein vollwertiges Mitglied der Gesellschaft?

Und dann Hanau, vor drei Jahren. Wieder ein rassistischer Anschlag. „Ich glaube, wir haben es über ein, zwei Generationen leider Gottes wiederholen müssen. Mit dem Anschlag in Hanau, wo ganz, ganz viele Kinder und Jugendliche heutiger Zeit sich die Frage stellen, werden wir denn jemals als vollwertige Mitglieder dieser Gesellschaft anerkannt werden?“ erklärt Anpalagan.

Tiefe Wunden, die nicht heilen können. Die immer wieder aufgerissen werden. Auch durch vermeintlich nebensächliche, alltägliche Verletzungen. „Es gibt in Deutschland ein Standard-Hautton“, meint Anpalagan. „Wenn ich die jetzt mal hier so in die Kamera halte und meine Hand danebenlege, würde ich sagen, keiner dieser Stifte bildet meine Hautfarbe ab. Das ist auch jetzt nicht so dramatisch in einem Land, in der die Mehrheit eben hellhäutig ist. Aber es gibt einen ‘Standard‘. Und darum geht es auch in diesem Buch, eine gewisse Form der Normalität. Und um diese Normalität aufzubrechen, ist es eben gut, dass man andere Sehgewohnheiten entwickelt“, findet der Autor.

Was ist „normal“ – und was nicht? Was ist deutsch? Und wer sind eigentlich ‘die Deutschen‘? Darüber streitet man hierzulande besonders gern und verrennt sich. „Es gibt eine Broschüre der AfD-Thüringen unter Björn Höcke, der lange, lange darüber nachdenkt, was die deutsche Leitkultur eigentlich ist, und kommt am Ende zu dem Ergebnis: Fußball, Winnetou und Wurst“, berichtet Anpalagan.

Jahrzentelanges Ignorieren und die Frage nach der Schuld

Stepahn Anpalagan schreibt mal humorvoll, mal ernst über all das. Er spannt den großen Bogen – von vergangenen Kämpfen zu aktuellen, vom „Problem-Ausländer“ zur Migrations-Debatte. Und zeigt, wie an all unseren Problemen immer „die Anderen“ schuld seien.

„Natürlich kannst du versuchen, die Zahlen runterzubekommen, aber möglicherweise schaffst du es einfach nicht, weil die globalen Krisen so groß sind. Seit 30 Jahren höre ich, man müsse Fluchtursachen bekämpfen. Ja, was haben wir denn gemacht? Wir haben die Entwicklungshilfe eingedampft. Wir haben uns einfach nicht mit den Grundproblemen im internationalen Austausch beschäftigt“, sieht der Autor. „Stattdessen sind wir der viertgrößte Handelspartner des Irans. Wir machen Geschäfte mit den Saudis. Wir haben jahrzehntelang billiges Gas von Russland geholt. Aber man kann nicht die Probleme, die existieren, Jahre oder jahrzehntelang ignorieren und sich dann anschließend vorne hinstellen, überrascht sein und in einem Anfall von erstem Aktionismus sofort den Ausländern die Schuld in die Schuhe schieben“, betont er.

Weil man so letztlich vor allem sich selbst schade – und nicht nur denen, auf die man zeigt und die man eigentlich so dringend braucht. Denn irgendwann ist auch der schlimmste Liebeskummer vorbei und wird zu Ablehnung.

Die Schattenseite von Liebeskummer

Stephan Anplagen will deutlich machen: „Wenn wir über zwei, drei Generationen nicht hinbekommen, Menschen Heimat zuzugestehen, die hier zugewandert sind oder eine Migrationsgeschichte haben, dann glaube ich, führt das zu enormen Frust und zu Verzweiflung und zu allem, was als Schattenseite von Liebeskummer feststellbar ist. Und ich glaube, das sollten wir aufnehmen, wahrnehmen und schon gucken, dass wir es über die nächsten Generationen hinweg einfach besser machen.“

Denn wer möchte schon in einem Land leben, das man „nur mit gebrochenen Herzen lieben kann?“


Autor: Sven Waskönig

„Kampf und Sehnsucht in der Mitte der Gesellschaft"
Stephan Anpalagan
S. Fischer Verlag, 2023
24,00 €

Stand: 26.11.2023 23:05 Uhr

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