So., 09.07.23 | 23:05 Uhr
Warum rebelliert die Jugend in Frankreich?
Das Migrationsmuseum in Paris bietet Antworten
Tagelang wurde Frankreich von gewaltsamen Protesten erschüttert. Nun da die Unruhen abgeflaut sind, beginnt die Suche nach den Ursachen. Da sind einerseits die desolaten Zustände in den Vororten von Paris und anderen Großstädten. Hochhaussiedlungen wie die "Cité Pablo Picasso", wo der getötete 17-jährige Nahel mit seiner Mutter lebte, sind ein Sammelbecken für die Abgehängten der Gesellschaft. Wer hier wohnt, hat kaum eine Perspektive. Zahlreiche Studien belegen die Diskriminierung der Vorstadtbewohner, überwiegend Einwanderer und ihre Nachfahren. Außerdem geht die französische Polizei mit extremer Gewalt gegen jugendliche Randalierer vor. Sie tritt martialisch auf und agiert deutlich brutaler als in anderen Ländern.
Geschichte der Einwanderung
Wie hängen Migration, Diskriminierung, Frustration, Krawalle und Polizeigewalt zusammen? Darüber wird in Frankreich heftig diskutiert. Es ist eine vergiftete Debatte, die Wasser auf die Mühlen rechter Populisten gießt. Da passt es gut, dass gerade das "Musée National de l'histoire de l'immigration" nach einer Phase des Umbaus und der Neuorientierung wieder eröffnet wurde. Es begreift die Einwanderung als Teil der französischen Geschichte und räumt mit zahlreichen Vorurteilen auf.
"Wenn ein politischer Diskurs einen Teil der Bevölkerung stigmatisiert, ihn für illegitim erklärt, wenn diese Bevölkerungsgruppen arm sind, in ausgegrenzten Vororten wohnen, dann führt dies zu Konfrontationen mit der Polizei." Das sagt Emmanuel Blanchard, Historiker, Politologe und Kurator des Migrationsmuseums. Auf einer Ausstellungsfläche von fast 2.000 Quadratmetern fächert es die Geschichte der Einwanderung auf und schlägt einen Bogen über mehrere hundert Jahre von der Zeit der Hugenotten bis in die Gegenwart.
Migration ist Teil der französischen Geschichte
"Wir wollten zeigen, dass die Geschichte Frankreichs ohne die Migranten unvorstellbar ist", sagt François Héran. Der Anthropologe und Soziologe hat die Arbeit der rund 40 Wissenschaftler koordiniert, auf deren Expertise die Ausstellung basiert. "Die Geschichte der Immigration ist ein wesentlicher Bestandteil der französischen Geschichte und das schon viel länger, als man denkt. Es herrscht ja die völlig falsche Idee vor, dass die Immigration erst spät einsetzte und vielleicht verzichtbar gewesen wäre."
Genau diese Sichtweise empfindet ein Teil der Franzosen als Provokation. "Die öffentliche Meinung ist so angstbesetzt oder xenophob, weil die politische Debatte so einseitig ist. Die Immigration gilt grundsätzlich als etwas, vor dem man sich schützen muss", sagt François Héran. Er setzt auf Aufklärung und Information, um die seit der französischen Kolonialzeit tief verankerten Vorstellungen über Migranten zu dekonstruieren. Wie sehr diese Zeit der blutigen Unterdrückung bis heute fortwirkt, zeigt sich auch in der übermäßigen Polizeigewalt, die die jüngsten Unruhen mit ausgelöst hat. "Wir müssen auf die Kolonialgeschichte zurückblicken", sagt Emmanuel Blanchard, "insbesondere, weil der Algerienkrieg ein Moment höchster Gewalt in Frankreich war, mit Tausenden von Todesopfern bei den Auseinandersetzungen. Diese Gewalt hat nie ganz aufgehört. Bis heute herrscht dort, wo Algerier und Algerierinnen leben, für alle Bewohner ein stärkeres System von polizeilicher Kontrolle und Gewalt, insbesondere als Erbe dieses algerischen Unabhängigkeitskrieges."
Das Museum will zur Versachlichung einer Debatte beitragen, die sich immer weiter verschärft. Was François Héran trotz aller Spannungen hoffen lässt, das sind die Toleranz und Offenheit, die er unter den jungen Franzosen wahrnimmt: "Sie sind mit der Einwanderung vertraut, sie kennen sie aus der Schule, aus ihrem Alltag. Wenn man mit anderen Gruppen vertraut ist, fördert das die Toleranz."
Autorinnen des TV-Beitrags: Claudia Kuhland/Cordula Echterhoff
Die komplette Sendung steht am 09. Juli ab 20 Uhr zum Abruf in der Mediathek bereit.
Stand: 10.07.2023 07:52 Uhr
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