So., 20.08.23 | 23:55 Uhr
Das Erste
Hochbegabt und hochsensibel
Tobias Rüthers Biografie des Schriftstellers Wolfgang Herrndorf
Er ist einer der bedeutendsten Schriftsteller seiner Generation. Sein Roman "Tschick" hat weltweit Millionen Menschen bewegt. Über seine Tumordiagnose und die Jahre bis zu seinem Tod hat er in seinem Blog "Arbeit und Struktur" sehr persönlich Auskunft gegeben. Wolfgang Herrndorf, 1965 in Hamburg geboren, hat am 26. August 2013 in Berlin sein Leben selbst beendet. Zu seinem zehnten Todestag hat Tobias Rüther eine Biografie des Schriftstellers vorgelegt. ttt hat mit ihm in Berlin gesprochen.
Norderstedt, Nürnberg, Berlin
"Die Nachricht von seinem Tod habe ich von einem Freund bekommen, ich weiß es noch ziemlich genau. Es war Nachmittag, es war am Tag darauf, und ich war im Büro, und ich habe die Tür zugemacht und hab geheult, weil einfach…, weil es einfach furchtbar war."
Tobias Rüther, Journalist und verantwortlich für das Literaturressort der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung, folgt Wolfgang Herrndorf von der Kindheit in Norderstedt über das Kunststudium in Nürnberg bis nach Berlin. Aufgewachsen in einem Lehrerhaushalt, entschied sich der vielseitig Begabte, nicht – wie geplant – Mathematik und Physik zu studieren, sondern an die Kunstakademie nach Nürnberg zu gehen. Allerdings interessierte er sich weniger für die Neuen Wilden als für die Kunst der alten Meister wie Vermeer, Dürer, van Eyck. Er war und blieb ein Einzelgänger, der sich im Künstlermilieu der Akademie fremd fühlte.
Schreiben statt Malen
Herrndorf begann, Karikaturen zu zeichnen, zog nach Berlin und arbeitete ab 1994 regelmäßig für das Satiremagazin "Titanic". 1998 erschien sein Kalender "Klassiker Kohl", in dem er den damaligen Bundeskanzler im Stile von van Gogh, Caspar David Friedrich oder Georg Baselitz verewigte. Doch Herrndorf suchte weiter nach anderen Ausdrucksformen. "Er hat irgendwann mal gesagt: Malen ist schlimmer als zum Zahnarzt gehen", so Tobias Rüther. "Als er dann in Berlin ankam, stellte er fest, dass es auch mit Schreiben gehen könnte, weil man eben nicht stundenlang irgendwie an einem Himmel rumpinselt, sondern eben einfach Himmel hinschreiben kann. Und das ist dann so der Augenblick, wo er merkt, es könnte damit weitergehen."
Welterfolg "Tschick"
Einen Anker und eine Heimat für sein Schreiben fand er im Internetforum "Höfliche Paparazzi". 2002 erschien sein Debütroman "Plüschgewitter". 2004 gewann er beim Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb den Publikumspreis. Zum Welterfolg wurde sein 2010 veröffentlichter Roman "Tschick". Die Geschichte zweier jugendlicher Außenseiter wurde vielfach ausgezeichnet, in 36 Sprachen übersetzt und in den Kanon der Schullektüren aufgenommen. "Tschick" stellte er fertig, als er bereits von seiner Krankheit wusste. Nach der Diagnose Anfang 2010 begann er, ein digitales Tagebuch unter dem Titel "Arbeit und Struktur" zu schreiben. Zunächst nur für seine Freunde gedacht, entschloss er sich, es öffentlich zugänglich zu machen. 2011 erschien sein letzter Roman "Sand".
Sein Freund Robert Koall, Dramaturg am Düsseldorfer Schauspielhaus, hat "Arbeit und Struktur" für die Bühne adaptiert. Die Uraufführung ist am 9. September. "Das ist das Perverse in der ganzen Geschichte des Schriftstellers Wolfgang Herrndorf, dass wir die Bücher, die wir haben, auch dem Umstand verdanken, dass er irgendwann unter Zeitdruck geriet", sagt er.
Tobias Rüthers Biografie zeichnet das Porträt eines außergewöhnlichen Menschen, der bis zuletzt sein Leben selbst bestimmte: "Ich kenne keinen anderen Schriftsteller, der es geschafft hätte, in der kurzen Zeit, die ihm zur Verfügung stand, so ein Formatreichtum zu schreiben. Ich kenne keinen anderen Schriftsteller, der so lustig ist und gleichzeitig so einen emotionalen und intellektuellen Gang in diese Prosa hineinbringt wie Herrndorf. Aber dieses Werk strahlt auch einen wahnsinnigen Optimismus aus."
Autor des TV-Beitrags: Eric Brinkmann
Buchtipp
Tobias Rüther: Herrndorf.
Eine Biografie
Rowohlt Verlag 2023, Preis: 25 Euro
Die komplette Sendung steht am 20. August ab 20 Uhr zum Abruf in der Mediathek bereit.
Stand: 20.08.2023 17:59 Uhr
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