So., 20.08.23 | 23:55 Uhr
Das Erste
Jeder schreibt für sich allein
Dominik Grafs Film über Schriftsteller im Nationalsozialismus
Als die Nationalsozialisten in Deutschland 1933 an die Macht kamen, verließen fast alle bedeutenden Schriftstellerinnen und Schriftsteller das Land und gingen ins Exil. Einige blieben, darunter Gottfried Benn, Klaus Mann, Erich Kästner, Hans Fallada, Jochen Klepper, Ina Seidel, Hanns Johst und Will Vesper. Über sie hat Anatol Regnier das Buch "Jeder schreibt für sich allein" geschrieben. Der Regisseur Dominik Graf hat es für seine gleichnamige Filmdokumentation adaptiert. Sie kommt am 24. August in die Kinos. ttt hat mit Dominik Graf und Anatol Regnier gesprochen.
Leben und Schreiben in einer Extremsituation
Wer im Deutschen Reich blieb und weiterhin publizieren wollte, der musste sich arrangieren. Aber was heißt das? Unabdingbar war es, sich als Mitglied in der von Joseph Goebbels im September 1933 gegründeten Reichsschrifttumskammer registrieren zu lassen. Doch wie viel Anpassung, wie viel Unterwerfung wurde verlangt?
Der Schriftsteller Anatol Regnier, Sohn von Charles Regnier und Pamela Wedekind, hat Nachlässe und Verlagsbriefwechsel gesichtet. "Unsere Eltern haben sie alle erlebt, aber niemand hat je richtig drüber gesprochen, richtig gesagt: 'So haben wir uns gefühlt, so haben wir das gesehen'", sagt Anatol Regnier. "Das kriegt man, indem man in die Archive geht, in die Korrespondenzen. Da sieht man, wie das war."
Graustufen statt Schwarz-Weiß
Im Film führt er uns wie ein Forschungsreisender in das Literaturarchiv Marbach und an die Lebensorte der Autoren. Es sind ganz unterschiedliche Biografien, die einen berührenden Eindruck von der Bandbreite menschlichen Verhaltens in Extremsituationen vermitteln. Unter den porträtierten Schriftstellern sind überzeugte Nazis ebenso wie Widerständler, die an ihre Grenzen stoßen. War man als Dagebliebener Teil des Systems? Oder war es möglich, als Schriftsteller im nationalsozialistischen Deutschland integer zu bleiben? Wie sehr hat die allgegenwärtige Bedrohung den Alltag geprägt? "Die Informationen, die man als Nachkriegskind bekommen hat über die Nazizeit, waren immer schwarz-weiß", sagt Dominik Graf. "Und hier bekam ich plötzlich eine solche ungeheure Menge an Grauabstufungen von Verhaltensweisen, Sichtweisen, katastrophalen Karrieren."
Ein Beispiel ist die Lebensgeschichte Erich Kästners, der betonte, er sei geblieben, um den ultimativen Roman über Nazideutschland zu schreiben – was er nie tat. Stattdessen verfasste er unter Pseudonym das Drehbuch zum UfA-Film "Münchhausen". "Der wollte sich irgendwie durchlavieren", sagt Dominik Graf, "und das ist ihm einerseits gelungen, auf der anderen Seite aber vor sich selbst – und das ist ja sein Drama –, in der Nachkriegszeit hat er gemerkt, er hat einen kapitalen Fehler gemacht." Oder Hans Fallada, der immer wieder davon sprach, weggehen zu wollen, aber dann doch nicht den Mut aufbrachte, das Land zu verlassen.
Beim Blick in die Vergangenheit drängen sich existenzielle Fragen auf, die an unsere Gegenwart rühren: Wie verhält man sich in düsteren Zeiten? Wann ist der Zeitpunkt gekommen, Widerstand zu leisten? Und wann ist es vielleicht schon zu spät? "Ich bin kein Moralist", so Dominik Graf, "mich interessieren die Erscheinungsformen. Ich finde es interessant, wie nah das an unseren Problemen im Augenblick ist." Und Anatol Regnier ergänzt: "Wir leben mittendrin in einer großen Auseinandersetzung zwischen der Demokratie und einem Hang zur Autorität, fast schon zur Diktatur, wo die Leute sich danach sehnen. Sie wollen einfache Antworten. Jemand, der sagt: So geht's, so nicht und so wird es gemacht. Und hier muss natürlich dann debattiert werden. Und das war in den letzten Jahren der Weimarer Republik ganz genauso."
Autorin des TV-Beitrags: Marion Ammicht
Die komplette Sendung steht am 20. August ab 20 Uhr zum Abruf in der Mediathek bereit.
Stand: 21.09.2023 15:50 Uhr
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