So., 17.08.25 | 23:35 Uhr
Das Erste
Der Schneesturm
Kalt und still versinkt die Welt. Ein Landarzt macht sich auf zu retten, wen er retten kann. Eine Seuche greift um sich und er hat den Impfstoff. Doch dann: ein Schneesturm. Der Ort, womöglich nur wenige Täler entfernt: wird unerreichbar.
Das Stück erlaubt viele Lesarten

"Das sogenannte Whiteout. Das ist der Moment, in dem zwischen Himmel und Erde der Horizont verschwimmt und alles weiß ist und man überhaupt nicht mehr erkennen kann, was oben und unten ist", sagt Schauspieler August Diehl. "Das kann zu einer Psychose führen und zu einem kompletten Verlust, Desorientierung. Daran denke ich viel, wenn ich das spiele. Für mich ist das der Schneesturm."
Ein Kutscher soll mit magischen Pferden den Arzt ans Ziel bringen. Das Stück erlaubt viele Lesarten. Es könnte im Zarenreich spielen oder in der nahen Zukunft - nach einer Apokalypse? Oder im Kopf eines vom Lebens-Ekel übermannten Arztes.
Sorokins "Schneesturm" wird zum Anti-"Jedermann"

"Er ist am Anfang jemand, der sehr zuversichtlich ist bei dem, was er tut", sagt Regisseur Kirill Serebrennikov. "Doch dieser selbstbewusste Mensch verliert die Orientierung, seinen Weg und alle Werkzeuge, die er zuvor verwendet hat. In dieser Ausnahmesituation sind sie einfach alle weg. Ich nenne das den philosophischen Tod. Dieser Mensch muss erst wieder anfangen zu leben."
Sorokins "Schneesturm" wird zum Anti-"Jedermann". Während bei Hofmannsthal der Reiche vom Tod geholt werden soll und nicht sterben will, will der Doktor im "Schneesturm" sterben und wird vom Leben geholt. Im Drogentrip halluziniert er bei lebendigem Leibe gekocht zu werden. Und plötzlich: fühlt er.
Der Schneesturm: das sind die anderen

"Schritt für Schritt verliert er sein Ziel", sagt August Diehl. "So ist es ja im Leben. Man hat am Anfang sehr klar vor Augen wie man etwas machen will. Und dann passiert dies und das und plötzlich weiß man gar nicht mehr, wo man eigentlich hin wollte. Davon handelt das Stück."
Der Schneesturm: das sind die anderen. Menschen, die zauberhaft singen und sehr kalt sein können. Verführende. Abweisende. Der Landarzt bleibt ein Fremder. Das Text ist zuweilen kaum mehr als weißes Rauschen. Aber wie Kirill Serebrennikov das in Bilder verwandelt, ist hoch musikalisch und abgründig. Whiteout. Purer Schmerz.
August Diehl spielt sich virtuos in Rage

"Ich weiß nicht mehr, wo ich eine Quelle für Hoffnung finden könnte", sagt Kirill Serebrennikov. "Die Menschen lieben Hoffnung. Aber ich sehe nur noch Probleme. Ich sehe, wie mein Heimatland in Chaos und Aufruhr versinkt, in Krieg und Tod. Und der Krieg wird immer wieder zurückkehren. Alles ist zerbrechlich. Wie soll man leben? Wie soll man überleben? In diesem Stück geht es eigentlich um uns. Wie wir einen Weg durch den Schneesturm finden."
Nur einmal wird der im Exil lebende Kirill Serebrennikov explizit: zeigt Russland als frische, virile Leiche im Schnee. Ansonsten findet er starke Bilder, Übergänge, Verwandlungen, viel mehr als der Text zu bieten hat.
August Diehl spielt sich virtuos in Rage, begleitet von einem starken Ensemble. Je irrer der Trip, desto härter hält er dagegen. Ein Schneesturm in allen Farben des Wahnsinns.
Autor: Andreas Krieger
Stand: 17.08.2025 20:55 Uhr
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