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Schicksalswahl in der Türkei

Eine gespaltene Gesellschaft

PlayBei der Wahl am 14. Mai in der Türkei steht viel auf dem Spiel
Türkei-Wahl – Der Blick der jungen Frauen auf ihr Land  | Bild: hr

Die Türkei in den Tagen des Wahlkampfs. Ein polarisiertes Land. Für die, die nicht hinter der Regierung stehen: ein Klima der Angst, gerade wenn sie sich kritisch äußern. Darunter sind viele junge Menschen. Denn besonders für sie geht es um alles.

"Ja, sie haben Angst, aber sie können sich nicht mehr zurückhalten, etwas zu sagen. Jetzt ist der Punkt erreicht, an dem wir nichts mehr zu verlieren haben", sagt Journalistin Büşra Cebeci.

"Ich habe keine Lust mehr, mich bedroht zu fühlen. Immer dieser Druck, aufzupassen, was ich sage, weil es gefährlich werden könnte. Mein Sohn ist acht Jahre alt. So eine Türkei will ich ihm nicht hinterlassen", berichtet die Musikerin Rümeysa Çamdereli.

Spaltung zwischen Laizisten und Frommen

Zum ersten Mal wurde es eng für Recep Tayyip Erdoğan. Auch deshalb hat der Druck vor der Wahl noch einmal zugenommen, sagt die Publizistin Çiğdem Akyol. In ihrem neuen Buch beschreibt sie die Türkei als zerrissenes Land. "Die gespaltene Republik". Ein Schwerpunkt: die Rolle der Religion und die Spaltung zwischen Laizisten und Frommen. Sie beschreibt den Einzug des "politischen Islam": wie Erdoğan die Religion von Beginn an für seinen Machterhalt zu nutzen weiß.

"Diese Politik des politischen Islams wurde über Jahrzehnte auf dem Rücken der Frauen ausgetragen, vor allem auf den Rücken der Kopftuchträgerinnen. Denn es waren Männer, die darüber bestimmten. Das hat mich fasziniert, diese Brüche. Wie gehen Frauen eigentlich mit diesem Thema um?", erklärt die Autorin.

Frauen wie Rümeysa Çamdereli. Sie ist Muslimin, überzeugte Kopftuchträgerin – und Feministin! In Istanbul leitet sie eine NGO für Frauenrechte. Gerade ist sie in Brüssel, um sich mit Europäer:innen zu vernetzen. Und muss ihre Haltung zur Erdoğan-Regierung hier – aber auch zu Hause - immer wieder erklären.

"Sie repräsentiert mich überhaupt nicht. Es gibt einen Teil Muslime, der gegen Erdogan ist. Vor allem muslimische Frauen - mit Kopftuch und ohne - die gegen die vielen Vorschriften sind, die mit Religion begründet werden, aber eigentlich patriarchal sind", sagt Çamdereli.

Das Kopftuch-Verbot als Drohung

In ihrer Geschichte spiegeln sich die Brüche ihres Landes. Als sie in die Schule ging, studierte, musste sie wie alle Frauen damals ihr Kopftuch abnehmen. Ein Erbe der laizistischen Staatsmaxime Atatürks, dem Gründungsvater der türkischen Republik.

"Es war wirklich traumatisierend. Besonders in der High School, als ich ein Teenager war. Ich habe mich nicht schön gefühlt. Und dann so in der Öffentlichkeit – da war ich nicht ich selbst. Es waren die schlimmsten Tage meines Lebens, es war schwer", berichtet Rümeysa Çamdereli.

Erdoğan ist es, der dann das gesellschaftliche Tabu bricht: indem er seine kopftuchtragende Frau zu öffentlichen Auftritten mitnimmt! Jahrzehntelang undenkbar. 2013 schafft er das Verbot in staatlichen Institutionen ab. Ermöglicht Kopftuchträgerinnen gesellschaftliche Teilhabe, die ihnen lange verwehrt war. Seitdem nutzt er dieses Thema auch im Wahlkampf.

"Sie instrumentalisieren es als Drohung: Wenn ihr uns abwählt, wird das Kopftuchverbot wiederkommen. Und das funktioniert sehr gut. Insbesondere bei der älteren Generation", kritisiert Çamdereli.

Erdoğans Ideologie

Im Land hat Erdoğan den politischen Islam und die Frommen gestärkt. Außenpolitisch die Türkei immer mächtiger gemacht.

"Er hat den Menschen ihren Nationalstolz wiedergegeben. Es gibt ein Zitat, das Erdogan zugeschrieben wird: Wir beugen uns nur zum Gebet und so dieses Gefühl, das haben die Menschen auch. Wir sind internationale Player, wir sind zurück auf der internationalen Bühne. Wir lassen uns nicht befehlen, wir erteilen Befehle", sagt Akyol.

Akyol analysiert auch, wie Erdoğan durch diesen Kurs immer autoritärer wird und das Justizsystem seiner Ideologie unterwirft. Die vor Gericht bringt, die die "falsche" Meinung äußern. Journalisten seien einer ständigen Selbstzensur unterworfen, sagt Büşra Cebeci. Sie arbeitet bei einem oppositionellen Fernsehsender, beschäftigt sich mit Frauenrechten. Sie findet nicht, dass Frauen dadurch, dass sie in Regierung, Behörden und Schulen Kopftuch tragen dürfen, auch mehr Rechte bekommen haben.

Politik als Generationenkonflikt

"Das Kopftuchverbot wurde ab der 5. Klasse aufgehoben. Diese Kinder dürfen Kopftuch tragen.Was für eine Art von Freiheit ist das? Das hat die Freiheit gebracht, Kinder und Frauen im Namen der Freiheit zu unterdrücken. Im Moment haben sie aber keine Freiheit. Mit anderen Worten: Unter der AKP werden die Kopftuchträgerinnen in die Vitrine gestellt, haben keine großen Rechte und egal ob sich die Regierung ändert oder nicht, Frauen müssen für ihre Rechte weiterkämpfen", sagt Cebeci.

Büşra Cebeci kommt aus einer ländlichen Gegend. Kopftuchtragen war für sie und ihre Familie selbstverständlich. Bis sie mit 22 beschließt, es abzulegen.

Auf einer Internetseite teilt sie ihre Erfahrungen mit anderen Frauen. Sie schildern Gewalt, Ausgrenzung und einen Generationenkonflikt.

"Früher habe ich mit meinen Eltern über Religion und Politik gestritten. Dann wurde mir klar, dass ich ständig versuchte, ihre Wahrheiten zu zerstören. Und das ist unnötig. Schließlich kann ich nicht versuchen, das zu ändern, woran über 50-Jährige glauben. Sie davon zu überzeugen, dass sie 50 Jahre lang einer Lüge geglaubt haben, ist sehr zerstörerisch. Genauso haben meine Eltern vielleicht gemerkt, dass ich so glücklicher bin", erklärt Cebeci.

Ihre Generation kenne nur die Regierung Erdoğan, sagt Büşra Cebeci. Und erlebe zum Beispiel, wie schwer es gerade ist, einen Job zu finden. Wie die Wirtschaftskrise das Land fest im Griff hat.

Kritiker:innen werden bedroht

"Viele denken darüber nach weg zu gehen: Aber wenn ich ins Ausland gehe, kann ich dann Asyl bekommen? Das ist eine große Entscheidung. Als Flüchtling weg zu sein, für lange Zeit nicht hierher zu kommen. Aber die Bedingungen in der Türkei sind gerade so schwierig im Moment für die Menschen", sagt Büşra Cebeci.

Rümeysa Çamdereli will dort weiterkämpfen. Sie ist auch Musikerin, hat früher für Schlagzeilen gesorgt, wenn sie mit Kopftuch auftrat. Heute ist das normal. Weil die junge Generation in den Städten ein freieres Leben will, gehe die Regierung immer härter vor, sagt sie. Gegen ihre NGO wird ermittelt, weil sie sich für LGBTQ-Rechte einsetzt.

"Gegen uns laufen Ermittlungen bei den Behörden in Ankara. Wir haben das Gefühl, dass der Kreis um uns immer enger wird, weil wir etwas tun, das die Gesellschaft verändern wird. Und wir spüren, dass die Veränderung kommt", sagt Çamdereli.

Junge Generation will Wandel

Die türkische Gesellschaft sei in Teilen viel liberaler, als Erdoğan sie gerne hätte, sagt Rümeysa Çamdereli. Das zeigt sich gerade in diesen Tagen der Wahl.

"Was gerne übersehen wird, ist, dass die Zivilgesellschaft in der Türkei sehr wach ist, sehr lebendig ist und sehr aktiv ist. Die Zivilgesellschaft hat nie aufgegeben, für ihre Rechte, für die Demokratie zu kämpfen in den letzten 20 Jahren", erklärt Rümeysa Çamdereli.


Beitrag: Katja Deiss

"Die gespaltene Republik" von Çiğdem Akyol, S. FISCHER, 400 Seiten, 2023.

Stand: 14.05.2023 23:42 Uhr

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