So., 10.09.23 | 23:05 Uhr
Das Erste
Io capitano / Green Border
Wo ein Leben beginnt, entscheidet darüber, was wir werden. Dakar, Senegal. Heimat. Zwei Männer wollen sie verlassen. Und doch ist da von Anbeginn die Vorahnung: Es könnte das letzte sein, was sie tun.
Eine heutige Odyssee
"Die Globalisierung, die mit aller Wucht hier bei uns zu spüren ist: Sie hat dort auch nochmal ganz andere Konsequenzen", sagt Regisseur Matteo Garrone. "Durch Social Media sehen die Jugendlichen im Senegal jeden Tag wie durch ein Fenster direkt mitten in unsere Leben hier in Europa. Es ist nur zutiefst menschlich, dass das ein Begehren in ihnen erweckt: an diesem Leben teilzuhaben. Eine bessere Zukunft zu haben. Wie wir mit diesem Begehren umgehen, das ist eine ethische Frage. Eine Frage der Gerechtigkeit."
Matteo Garrone, der in Venedig mit dem Regiepreis geehrt wurde, erzählt seinen Film als heutige Odyssee. Das Ziel vor Augen und doch aus immer neuen Gründen unerreichbar. Er macht den Teil der Reise erlebbar, der sonst ungesehen bleibt: Mali, Niger, Libyen. Bald geht es nicht mehr nur ums Ankommen, sondern ums Überleben.
Ein 16-Jähriger soll die Geflüchteten übers Meer bringen
Foltergefängnisse libyscher Milizen. Was ist der Mensch dem Menschen. "Ich will mit meinem Film versuchen, unseren Blickwinkel einmal komplett zu drehen: Anstatt, wie wir es sonst immer machen, von Europa aus nach Afrika zu blicken, schauen wir hier von Afrika aus nach Europa", sagt Garrone. "Ich will den Zuschauern die Möglichkeit geben, einmal wirklich ganz persönlich nachzuempfinden, was diese Reise für einen Menschen bedeutet. Was mich getrieben hat, war die Suche nach Authentizität und Wahrhaftigkeit."
Der 16-Jährige soll die Geflüchteten übers Meer bringen. Die Geschichte einer Selbstermächtigung. So schön wie es nur das Kino kann. Wenn auch nur für einen Moment.
Die Illusion: Jetzt haben wir es geschafft
Das Phantasma des gelobten Landes. Davon erzählt auch ein zweiter Film im Wettbewerb. Das Ziel ist das gleiche. Nur die Route hat sich verändert. Ankunft in Minsk, Belarus. Eine syrische Familie und eine Afghanin auf dem Landweg nach Polen. Europa.
Und wieder, die Illusion: Jetzt haben wir es geschafft. "In diesem Grenzgebiet zu Polen haben Freunde von mir die Leiche eines Geflüchteten gefunden", sagt Regisseurin Agnieszka Holland. "Eine andere Freundin hat dort Menschen immer wieder aus den lebensgefährlichen Sümpfen gezogen."
Ein Film wie ein Kaleidoskop
Realität an der EU-Außengrenze, gezeigt mit fast dokumentarischer Präzision. Illegale "pushbacks", mit denen Menschen von Polen zurück nach Belarus gedrängt werden. Ein Film wie ein Kaleidoskop. Ein Ort, drei Perspektiven. Die Geflüchteten, die Aktivisten und die polnischen Grenzsoldaten. Der Film zeigt, wie sie indoktriniert werden. Geflüchtete als menschliche Waffen des Feindes.
"Die Ideologie und Strategie unserer derzeitigen Regierung ist, so zu tun, als ob wir Polen immer ganz unschuldig wären, als ob wir die Opfer seien", sagt Regisseurin Agnieszka Holland. "Ich hingegen will, dass mein Film ein Ort ist, an dem die Schatten sichtbar werden: die Ambivalenz der Dinge, die Abgründe und ja: das Erleben von Schuld."
In Polen gilt "Green Border" als Landesverrat
In Venedig erhielt der Film den Spezialpreis der Jury. In Polen kommt er jetzt ins Kino und gilt bereits als Landesverrat. "Ich wurde in meinem Leben schon oft zur Staatsfeindin Polens ernannt", sagt Holland. "Das ist nichts Ungewöhnliches für mich. Aber das Ausmaß des Hasses und der Anfeindungen, die ich gerade von meiner Regierung erfahre: Das ist mehr, als ich jemals zuvor erlebt habe. Mehr, als ich im Kommunismus erleben musste."
Europa, diese Idee eines besseren Ortes, bleibt ein Versprechen. Zwei Filme, ein Dilemma. Sie ahnen, dass sie nichts verändern werden. Und sagen dennoch, was ist.
Autorin: Ronja Mira Dittrich
Stand: 13.09.2023 08:59 Uhr
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