So., 14.09.25 | 23:05 Uhr
Das Erste
„Kill the Jockey“
Ein fulminantes Kinoereignis aus Argentinien
Menschen in einer Bar. Sie wirken seltsam entrückt. Ein Jockey schläft seinen Rausch aus – so beginnt „Kill the Jockey“. Remo, der Jockey, hat Schulden bei der Pferderenn-Mafia, die seine Wettgewinne kassiert. Er betäubt sich mit Alkohol und Drogen. Die Geschichte entfaltet sich in einem zeitlupenartigen Tempo mit Bildern wie aus einem surrealen Traum.
Zweifel an der Realität
Regisseur Luis Ortega erklärt: „Ich nehme die alltägliche Realität in dieser traumähnlichen Stimmung wahr. Ich kann nicht ganz verstehen, warum das so ist. Aber für mich ist alles wie im Traum, vom Aufwachen bis zum Einschlafen ist alles sehr träumerisch, und das wollte ich in den Film bringen. Ich arbeite mit einem großartigen Kameramann zusammen, Timo Salminen. Er hat diese Art, das Licht so zu setzen, dass es nicht realistisch aussieht. Ich habe so viele Zweifel an der Realität, ich brauchte ihn, um diese Stimmung zu erzeugen.“
Luis Ortega sah man letztes Jahr bei den Filmfestspielen in Venedig mit Hauptdarsteller Nahuel Pérez Biscayart. Zwei Freunde, die sich schon seit über 20 Jahren kennen. Sie vertrauen einander, haben Spaß am assoziativen Spiel. Nahuel Pérez Biscayart spielt den Jockey minimalistisch, mit fast pantomimischer Präzision. Laut Pérez Biscayart bestand die Herausforderung darin es glaubwürdig zu machen: „Weil die Idee des Films sehr gewagt, sehr träumerisch ist. Das eröffnet einen Raum, in dem Logik keine Rolle spielt, aber Wahrheit extrem wichtig ist,“ erzählt er.
Kampf der Geschlechter
Eine Szene im Film zeigt ein Rennen – mit am Start ist Remos Freundin Abril, seine größte Konkurrentin. Die Rollenverteilung in dieser Beziehung wird in einer Tanzperformance inszeniert. Regisseur Luis Ortega sagt, sie sei die stärkere Persönlichkeit: „Weil ich finde, dass Frauen so sind: sie sind zumindest stärker als ich. Männer müssen viel lügen, um stärker zu wirken. Das ist dumm, aber es ist wie ein Überlebensmodus. Wenn man einer Frau wirklich zeigt, wie verletzlich man ist, hat man das Gefühl zerstört zu werden.“
„Was muss ich tun, damit du mich liebst?“ fragt Remo seine Freundin in „Kill the Jockey". „Sterben und wiedergeboren werden“, antwortet Abril. Und genau diesen Dialog hatte Luis Ortega mit seiner Freundin, erzählt er: „Als ich das hörte, war ich schockiert, weil ich dachte sie fordert mich auf zu sterben, als einzige Rettung für meine Seele. Aber dann fand ich es sehr inspirierend und nahm den Satz als Grundidee für den Film, dass man sterben muss, um wiedergeboren zu werden.
Das Leben außer Kontrolle
Der Tag des großen Rennens. Letzte Chance für Remo dem Mafiaboss Sirena sein Geld zurückzuzahlen. Letzterer fragt Remo im Film: „Bist du aufgeregt? Nein? Gut so. Du musst gewinnen.“ Remo gibt sein Bestes, geht in Führung, doch dann rennt das Pferd mit hoher Geschwindigkeit gegen die Absperrung. Hauptdarsteller Nahuel Pérez Biscayart: „Wer macht was? Atme ich oder atmet die Luft mich? Und genau das ist für mich die Superpower dieses Films! Denn er erzählt vom Leben nicht als bewusste Entscheidungen, die wir selbst treffen, sondern als Phänomen, das immer ein wenig außer Kontrolle ist. Und ich denke, dass es durch Zerstörung und Selbstzerstörung auch einen Weg geben kann für Wiedergeburt und Erwachen.“
Ein Film wie eine Assoziationskette
Remos Gedächtnisverlust ist der Beginn von etwas Neuem. Befreit von seiner Vergangenheit entwickelt der Jockey eine neue Identität: Aus Remo wird Dolores. Intensive irrationale Szenen, die Regisseur Ortega in der Realität von Buenos Aires gefunden hat: Ich ging die Straße entlang und sah diesen Typen, der einen langen Frauenpelzmantel trug. Er ging von einer Apotheke zur nächsten und stellte sich auf die Waage. Ich folgte ihm. Und dann kam er aus einer Apotheke heraus und sagte: ‚Jede Waage sagt, dass ich null wiege, und ich glaube, ich existiere nicht, aber sie verfolgen mich, sie wollen mich umbringen.’ Und ich sagte: ‚Das ist eine grandiose Voraussetzung.’ Ich fand diese Idee großartig, dass man nicht weiß, ob man wirklich existiert oder nicht. Und man dann zu einer anderen Person werden kann.
Und so schreitet dieser wunderbare Film voran, wie eine Assoziationskette über die ersten und die letzten Dinge. Denn dann verschwindet Remo. Ein Polizist und Remos Freundin Abril schauen sich Überwachungsvideos an, auf denen die Polizei ihn entdeckt hat: „Wir konnten einen Teil seiner Route nachverfolgen, aber irgendwann verlieren wir die Spur,“ meint der Polizist. Abril reagiert traurig: „Er hat viele Probleme.“ Regisseur Luis Ortega resümiert: „Letztendlich geht es um die Liebe. Ich fand es wichtig, diese ganze bedingungslose Liebe da hinein zu tun, ich mag die Tatsache, dass sie irgendwie immer für ihn da ist, egal was passiert, auch wenn er jetzt eine andere Person ist, auch wenn er jetzt eine Frau ist.“
Bericht: Carola Wittrock
Stand: 15.09.2025 10:31 Uhr
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