So., 29.06.25 | 23:35 Uhr
Das Erste
Deutschland wird "kriegstüchtig"
Was die "Zeitenwende" für unsere Gesellschaft bedeutet
1955 wurde die Bundeswehr gegründet. In den 70 Jahren ihrer Existenz galt es als ausgeschlossen, dass deutsche Soldaten dauerhaft im Ausland stationiert werden. Dieses Tabu wird jetzt gebrochen. Deutschland verlegt in den nächsten zwei Jahren fast 5.000 Soldaten nach Litauen, an "die Ostflanke der NATO", wie es im militärischen Sprachgebrauch heißt. 70 Jahre lang war die Bundeswehr außerhalb der Kasernen kaum sichtbar – jetzt finden Bundeswehr-"Schnupperkurse" statt – 15-Jährige können ein paar Tage in Kasernen übernachten und den Soldaten-Alltag kennenlernen. Die Zeitenwende bedeutet zum einen ein riesiges Aufrüstungsprogramm – "titel thesen temperamente" aber fragt, was es bedeutet, wenn eine Gesellschaft "kriegstüchtig" werden soll? "ttt" hat mit einem Soldaten gesprochen, der 1999 beim ersten Kampfeinsatz der Bundeswehr schwer verwundet wurde. Und der sich dennoch immer wieder zu Auslandseinsätzen gemeldet hat. Und wir treffen Hartmut Rosa, Direktor des Max-Weber-Kollegs an der Universität Erfurt und international renommierter Soziologe. Er beschreibt die Dynamik, die von der deutschen Politik in die Gesellschaft getragen wird als "rasenden Stillstand" – die Öffentlichkeit lernt, dass für internationale Konflikte nur noch militärische Stärke und in der Konsequenz militärische Lösungen zur Verfügung stünden. Ein Diskurs in nur eine Richtung, so Rosa, aus der man schwer wieder hinauskommt.
Kriegsrhetorik und ihre Folgen: Wie sich Gesellschaften verändern

Seit über drei Jahren soll Deutschland auf einen Krieg vorbereitet werden, den irgendwie keiner will, von dem alle hoffen, dass er nicht kommt und der doch geradezu herbeigeredet wird. Es beginnt – so sagte es jüngst ein Militärhistoriker – der möglicherweise letzte Sommer, den wir im Frieden verbringen. Kriegsrhetorik! Hartmut Rosa ist Soziologe, Leibniz-Preisträger und Direktor des Max-Weber-Kollegs der Universität Erfurt. Seine Forschung zu Beschleunigungsdynamiken in modernen Gesellschaften hat ihn international bekannt gemacht. Rosa kann sich mit dem Wort "kriegstüchtig" nicht anfreunden. "Wenn eine Gesellschaft sich entscheidet, kriegstüchtig werden zu wollen, dann muss sie ihr Verhältnis zur Gewalt auch ändern. Genaugenommen muss sie Tötungsbereitschaft herstellen. Wenn ich sage kriegstüchtig kommt da ein Aggressionsmoment ins Spiel, eine innerliche Umkehr in der Bereitschaft zu töten und zu verletzen und zu zerstören und zu verstümmeln, die ich sehr verstörend finde und die natürlich die potentiell andere Seite, die anderen Seiten auch als eine Aggressionshaltung interpretieren müssen", erklärt Hartmut Rosa.
Bundeswehr im Wandel: Zwischen Ehrung und gesellschaftlichem Umdenken

Vor zwei Wochen in Berlin direkt am Reichstag: Zum 1. Mal in ihrer 70-jährigen Geschichte feiert die Bundeswehr einen Veteranentag. Man probiert einen kaum zu bewältigenden Spagat: Zum einen sollen hier die Ehemaligen geehrt werden. 400.000 Deutsche waren seit 1990 bei Kampfeinsätzen der Bundeswehr. Oben auf der Bühne erzählen einige von ihnen von ihren Verwundungen – den sichtbaren und den unsichtbaren. Und zum anderen können unten in einem Zelt Jugendliche die neuesten Produkte eines Prothesenherstellers ausprobieren. Welche Geschichte wollen Politik und Armee der Gesellschaft erzählen? Dass Krieg – Tod, Verstümmlung und Trauma bedeuten und wir dennoch kriegstüchtig werden müssen? "Dieser Wandel in der Wahrnehmung scheint mir von fundamentaler Bedeutung zu sein. Krieg war bisher eher ein Ding der Vergangenheit, leider gibt es die noch. Wir können es überwinden. Und jetzt war die Wahrnehmung: Wir können es nicht überwinden", so Rosa.
Kriegstüchtig um jeden Preis?

Was es im Ernstfall bedeutet, kriegstüchtig zu sein und welchen Preis man dafür zahlt, das hat Meik Briest, Oberstabsfeldwebel der Bundeswehr, schon vor 26 Jahren erleben müssen. Kosovo, 1999. Der damals 34-jährige Briest arbeitet in einer Art Himmelfahrtskommando – er sucht nach Minen und Blindgängern. Immer wieder geht alles gut – aber wenige Tage nach diesen Aufnahmen detoniert Streumunition vor Briests Augen. "Ich stand dann auf der Wiese mit einem roten Film vor den Augen. Vollgepumpt mit Adrenalin. Ich bin ja nicht umgefallen. Und dann wirklich dieses Dröhnen, als wenn du im Kölner Dom direkt unter der Glocke stehst – so ein Dröhnen auf den Ohren. Irgendwann kamen dann auch Stimmen durch, aber wirklich so Stimmen richtig in Panik, Schreien – und so weiter. Also mir hat es komplett den rechten Oberkiefer rausgerissen, inklusive Jochbein, Jochbogen. Der Augenhöhlenboden war nur noch in Teilen vorhanden. Splitterverletzungen, die sich über den ganzen Kopf gezogen haben. Schädelbasisbruch", erzählt Meik Briest.
Verwundet an Körper und Seele – Was die Zeitenwende bedeuten kann

30 Operationen unter Vollnarkose hat Briest in den letzten 26 Jahren über sich ergehen lassen müssen. Sein Schicksal steht für das, was die Zeitenwende für die jungen Menschen, die die Bundeswehr jetzt sucht und ausbildet, bedeuten kann: Wie Briest könnte es Hunderttausenden ergehen – an Körper und Seele für immer verwundet – wenn unsere Gesellschaft weiter taumelt auf dem Weg in Richtung Konfrontation. "Das ist das, was mich an dem Begriff der Zeitenwende stört: Geht damit eine Delegitimierung jeder Idee einher, es auf anderem Wege zu versuchen. Man kann das diskursiv sehr schön sehen. Sobald jemand sagt: 'Lasst uns doch mal überlegen, ob man vielleicht verhandeln könnte', kommt ganz stark der Gegenchor: 'Der Typ hat immer noch nicht begriffen, dass Verhandeln sinnlos ist'", so Hartmut Rosa. Mike Briest arbeitet heute auf einem Truppenübungsplatz als Feuerwerker. Er überwacht Schießübungen. Wie so viele, die einmal im Krieg waren, hat sich Meik Briest wieder und wieder zu Kampfeinsätzen im Ausland gemeldet. Manche sagen, das sei Teil ihres Traumas. "Es ist entweder Teil der posttraumatischen Belastungsstörung oder aber eben auch ... ich sehe es als Teil der Therapie", erzählt Mike Briest.
Zeitenwende im "rasenden Stillstand"
Der Soziologe Hartmut Rosa beschreibt die Zeitenwende als eine Situation des "rasenden Stillstands" in der Gesellschaft – die Dinge eskalieren, aber ohne sich zum Besseren zu wenden. "Das Ziel ist doch auf allen Seiten: Wie verhindern wir einen Großkonflikt, vielleicht so was wie einen nuklearen Krieg oder einen Krieg gegen Russland. Und ich würde sagen, wir verhindern ihn nicht, wenn wir ständig davon reden, dass wir den letzten Sommer in Frieden haben, dass wir nicht mehr in der Nachkriegszeit leben, sondern in der Vorkriegszeit. Das sind nicht Sachen, die ich mir ausdenke, das sind Sachen, die ich den Leitmedien entnehme. Wenn das einzige Instrument, das du hast, ein Hammer ist, sehen bald alle Probleme wie Nägel aus", so Hartmut Rosa. Briest hat sich beworben – Fünf Mal zu Kampfeinsätzen. 400.000 andere Deutsche haben das auch schon getan. Sein Schicksal steht dafür, was Krieg letztendlich bedeuten wird.
Autor: Ulf Kalkreuth
Stand: 30.06.2025 17:42 Uhr
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