SENDETERMIN So., 17.09.23 | 23:05 Uhr | Das Erste

Das Leben des Walter Ulbricht vor der DDR

Monumentales Werk von Ilko-Sascha Kowalczuk

PlayDie Mitgliedskarte zum Zentralkomitee der Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD) des DDR Politikers Walter Ulbricht liegt am 13.10.2017 in Hamburg im Auktionshaus Carsten Zeige auf einem Tisch
Neue Biografie: Das Leben des Walter Ulbricht vor der DDR | Video verfügbar bis 17.09.2024 | Bild: dpa

Für den Publizisten Sebastian Haffner war er der "erfolgreichste deutsche Politiker nach Bismarck und neben Adenauer". Für andere nur das Werkzeug Moskaus. Karikatur seiner selbst. Sachse. Frei von Charisma.

Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk im ttt-Gespräch
Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk im ttt-Gespräch | Bild: ttt

Der Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk hat nun mit einer umfassenden Biografie – der erste von zwei Teilen schildert die Zeit bis 1945 – gegen all diese Zuschreibungen angeschrieben, die Ulbricht erfahren hat. Herausgekommen ist ein vielschichtiges Porträt des Diktators als junger Mann: "Wenn man sich die gängigen Ulbricht-Bilder und -Bücher anschaut, die es gibt, dann wird man sehr schnell feststellen, dass ihm viele Dinge angedichtet wurden, die pure Erfindung sind. Einfach weil die Zeitgenossen dem Mauerbauer Ulbricht alles zugetraut haben."

Mauerbauer Ulbricht als Hassfigur 

"Niemand hat die Absicht eine Mauer zu errichten." Mit dieser legendären Nebelkerze schreibt er Weltgeschichte. 1961, da ist er längst der Apparatschik und Demagoge, den alle in ihm sehen. Der Hass, den er auf sich zog, verzerrte das Bild, wie Kowalczuk feststellt, er zählt die gängigen Stereotype zu Ulbricht auf, "dass er dumm sei, dass er nicht sprechen, nicht richtig formulieren könne, dass er ungebildet sei, dass er sich nicht für Kunst und Literatur interessiert habe, dass er Zuhälter und sein Vater ein Säufer gewesen sei, dass er in einem zwielichtigen Viertel groß geworden sei, und, und, und." Nichts davon treffe zu, so Kowalczuk über die Legenden.

"Bildung, Bildung, Bildung": Vom Schneiderssohn zum mächtigen Politiker

Blick in die Leipziger Gottschedstraße, in dem Viertel wuchs Ulbricht auf.
Blick in die Leipziger Gottschedstraße, in dem Viertel wuchs Ulbricht auf. | Bild: ttt

Kowalczuks neue Biografie ist nichts weniger als der Versuch einer Rekonstruktion. Das Viertel um die Leipziger Gottschedstraße, in dem Ulbricht aufwuchs, war um 1900 ein gutbürgerliches. Im Geburtshaus wohnte Gustav Stresemann, späterer Reichskanzler, und etwas früher Gustav Mahler. Es war typisch für die Leipziger Innenstadt, dass verschiedene soziale Milieus in einem Haus zusammentrafen. So wohnte dort auch der Schneider Ernst August, Ulbrichts Vater. Kleine Verhältnisse, großer Ehrgeiz.

"Wenn man sich das bewusst macht, hat man auch einen gewissen Respekt, wie sich jemand aus solch einfachen Verhältnissen derart emporarbeiten kann", so Kowalczuk und erklärt den Aufstieg "einzig und allein mit Disziplin und mit dem unbedingten Verlangen, wissen zu wollen. Bildung, Bildung, Bildung. Das war es, was er von seinen Eltern von zu Hause mitbekommen hat."

Ulbrichts Aufstieg in der KPD: Kowalczuk blick neu auf die Quellen bis 1945

1893 in der Messestadt geboren, erinnern seine Mitstreiter Ulbricht später einerseits als lebhaft und hilfsbereit, die anderen finden seine Sturheit bemerkenswert. Siebzehn Monate Wanderschaft führen den Tischlergesellen bis Venedig und zurück. Der Gefreite Ulbricht desertiert im 1. Weltkrieg von der Front, wird verhaftet und überlebt mit Glück. 1918 wird aus dem Spartakusbund die Kommunistische Partei, in der Ulbricht in den nächsten Jahren rasant aufsteigen wird.

Als Historiker hält sich Kowalczuk konsequent an die Quellen. Er spekuliert nicht, was Ulbricht hier und da gedacht haben könnte. Die Geschichte der KPD, die mitgeliefert wird, ist eine heftiger Intrigen. Ulbricht mittendrin. Kowalczuk, in der DDR, in Berlin Friedrichshagen, aufgewachsen, drehte jahrelang in Archiven jeden Zettel um, prüfte Zeitzeugenaussagen.

Zentrale Frage: Wie wurde Ulbricht zum skrupellosen Machtmenschen?

Alles um einen Mann zu verstehen, der die DDR prägte wie kein anderer und eine Antwort zu finden auf die zentrale Frage: Wie wurde aus dem glühenden Kommunisten Ulbricht der skrupellose Machtmensch, der er als späterer Staatschef war? Eine Frage, die Kowalczuk schon seit den 1980er-Jahren beschäftigt hat: "Mich hat interessiert, wie dieser Staat, in dem ich gelebt habe, der eine Mauer brauchte, damit die Leute nicht wegrennen, der mir vorgeben wollte, wie ich mich anzuziehen habe … wie also aus dieser Idee, die ich ursprünglich toll fand als Jugendlicher, eine solch perverse Art von Staatsverständnis geworden ist."

"Sich über Ulbricht lustig machen – vor 1945 undenkbar"

Kowalczuk wendet sich mit seiner Biografie gegen die gängigen Ulbricht-Klischees.
Kowalczuk wendet sich mit seiner Biografie gegen die gängigen Ulbricht-Klischees. | Bild: ttt

Ulbricht, der sich in einer heute kurios scheinenden Selbstinszenierung als bildungsbeflissener Staatsvater zeigte, war in der ersten Hälfte seines Lebens keine Witzfigur. Er schrieb, so der Biograf, stilistisch einwandfrei und konnte druckreif frei sprechen. "Das ist umgedeutet worden in den 1950er-Jahren", so Kowalczuk, "als man sich auf ganzer Linie über alles von Ulbricht lustig machte – über sein Sächsisch, über seine Stimme, über sein Äußeres. Das wäre vor 1945 niemandem eingefallen. Tatsächlich galt er bis dahin als ein guter Redner, das hat sogar sein härtester Konkurrent Goebbels anerkannt."

In einer öffentlichen Versammlung der NSDAP Berlin am 22. Januar 1931 lauscht der spätere Reichspropagandaleiter der Nazis dem Kommunisten, der ohne Mikrofon und Manuskript fünfundvierzig Minuten im Saalbau Friedrichshain die Massen mobilisiert. Die anschließende Saalschlacht zwischen Nazis und Linken ist legendär.

Geprägt vom Leben in Illegalität und Moskauer Exil

Ulbricht begeistert und er kann organisieren. In halb Europa leitet er ab 1933 im Auftrag Moskaus die KPD-Büros an. Das Leben in der Illegalität, ständig auf der Flucht, misstrauisch gegen Jedermann, prägt den Charakter.

Stalin schickt Ulbricht nach Berlin, den Neuanfang zu regeln. Damit endet der erste Teil von Kowalczuks neuer Biografie.
Stalin schickt Ulbricht nach Berlin, den Neuanfang zu regeln. Damit endet der erste Teil von Kowalczuks neuer Biografie. | Bild: ttt

In Moskau lernt er Lotte Kühn kennen. Beim Schlittschuhlaufen wird die spätere First Lady der DDR seine große Liebe. 62 Liebesbriefe sind überliefert, die einzigen emotionalen, warmherzigen Dokumente, die der spröde Parteiarbeiter Ulbricht hinterlassen wird. "Stelle Dir vor", schreibt er ihr, "dass ich jetzt wieder normaler arbeiten kann, aber leider nur von Dir träumen kann."

Sie wohnen im Gästehaus der Kommunistischen Internationale, im berüchtigten Hotel "Lux". Nacht für Nacht verhaftet Stalins Geheimpolizei hier Bewohner, selbst die linientreuesten. Ein System von Bespitzelung, Verdächtigung und Bestrafung, gegen das Ulbricht nicht aufbegehrt. Die blutige Seite der Macht. Vor ihr wird er als Staatschef der DDR nicht zurückschrecken. Als aber Lotte vom Stalinschen Terror bedroht wird, stellt Ulbricht sich schützend vor sie. Das hätte beider Leben kosten oder im Gulag enden können.

"Ulbricht kannte keine Angst"

Er habe seinen Mitstreitern sehr viel abverlangt – auch ein sehr hohes persönliches Risiko. "Aber niemals etwas, was er nicht selber auch gemacht hätte", so beschreibt es Kowalczuk in seinem Buch: "Das haben auch seine politischen Gegner innerhalb der Partei anerkannt, als sie sagten: 'Ulbricht scheint so etwas wie Angst nicht zu kennen.' Insofern ist das auch nur folgerichtig, dass der dann nach Stalingrad geht."

Glaubt man dem Schriftsteller Erich Weinert, der mit Ulbricht im Graben lag, "hörten die Deutschen, wenn Ulbricht sprach, auf zu schießen", so Kowalczuk. Über Lautsprecher fordert er 1943 die deutsche Soldaten von der russischen Seite der Front zur Kapitulation auf. Später rekrutiert Ulbricht im Auftrag Moskaus in Kriegsgefangenenlagern Mitstreiter für den Neuanfang.

Faktenreich und detailversessen

Kowalczuks Biografie, knapp 800 Seiten, faktenreich und detailversessen, endet 1945. Stalin schickt Ulbricht nach Berlin, den Neuanfang zu regeln. Angeblich blickt die "Gruppe Ulbricht" bei ihrer Ankunft auf das zerstörte Berlin – eine Legende. Die Verwirklichung der Utopie des Kommunismus, mit Ulbricht als zupackenden "Trümmermann" an der Spitze, eine gestellte Szene. Aber es sollte nur die erste und keineswegs letzte Propaganda-Inszenierung des neuen starken Mannes sein.

Autor: Hans-Michael Marten

Buchtipp:
Ilko-Sascha Kowalczuk
Walter Ulbricht: Der deutsche Kommunist
C.H. Beck, 2023

Stand: 18.09.2023 11:18 Uhr

0 Bewertungen
Kommentare
Bewerten

Kommentare

Kommentar hinzufügen

Bitte beachten: Kommentare erscheinen nicht sofort, sondern werden innerhalb von 24 Stunden durch die Redaktion freigeschaltet. Es dürfen keine externen Links, Adressen oder Telefonnummern veröffentlicht werden. Bitte vermeiden Sie aus Datenschutzgründen, Ihre E-Mail-Adresse anzugeben. Fragen zu den Inhalten der Sendung, zur Mediathek oder Wiederholungsterminen richten Sie bitte direkt über das Kontaktformular an die ARD-Zuschauerredaktion: https://hilfe.ard.de/kontakt/. Vielen Dank!

*
*

* Pflichtfeld (bitte geben Sie aus Datenschutzgründen hier nicht Ihre Mailadresse oder Ähnliches ein)

Kommentar abschicken

Ihr Kommentar konnte aus technischen Gründen leider nicht entgegengenommen werden

Kommentar erfolgreich abgegeben. Dieser wird so bald wie möglich geprüft und danach veröffentlicht. Es gelten die Nutzungsbedingungen von DasErste.de.

Sendetermin

So., 17.09.23 | 23:05 Uhr
Das Erste

Produktion

Mitteldeutscher Rundfunk
für
DasErste