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Betrunken im Mutterleib

Ein Mann steht vor einem Feuerwehrauto
Michael möchte später bei der Berufsfeuerwehr arbeiten. | Bild: BR

Michaels größter Wunsch ist es, bei der Berufsfeuerwehr zu arbeiten. Bei jeder Gelegenheit engagiert er sich bei der Freiwilligen Feuerwehr des kleinen Dorfes, in dem er lebt. Michael ist 19 Jahre alt und wohnt bei einer Pflegefamilie. Seinen Berufswunsch zu realisieren, wird nicht einfach werden.

Die Familie hat ihn als Baby aufgenommen – als erstes von insgesamt vier Pflegekindern, die dauerhaft bei ihnen leben. Er war ein besonders schwieriges Kind, anders als die anderen, sagt seine Pflegemutter. Oft stießen sie und ihr Mann an Grenzen, etwa wenn Michael Hausaufgaben machen sollte. "Da haben hier die Scheiben gebebt, so hat er sich dann aufgeregt und hat unheimlich Widerstand geleistet, wo jedes andere Kind dann irgendwann mal ein bisschen einlenken würde," erzählt der Pflegevater Thomas.

Erst als Michael 12 Jahre alt war, bekam die Familie die Diagnose: Michael hat FASD (Fetal Alcohol Spectral Disorders), eine Fetale Alkoholspektrumstörung. Das bedeutet, sein Gehirn ist irreparabel geschädigt. Der Grund: Seine leibliche Mutter hat Alkohol getrunken, als sie mit ihm schwanger war. Man sieht es Michael nicht an. Er ist hilfsbereit und freundlich – aber er kann seinen Tag nicht alleine strukturieren und seine Aufgaben nicht selbstständig erledigen.

FASD-Kinder haben im Alltag Probleme

Eine Übersicht eines Tagesplans
FASD-Betroffene brauchen einen Tagesplan | Bild: BR

Menschen mit FASD können vieles nicht, was für andere selbstverständlich ist: Sie können zum Beispiel Gelerntes schlecht behalten, sich nicht konzentrieren, andere Menschen nicht richtig einschätzen. Es fällt ihnen auch schwer, "mein" und "dein" oder Recht und Unrecht zu unterscheiden, mit Geld umzugehen oder Termine einzuhalten. Wenn sie überfordert sind, werden sie schnell wütend und aggressiv. Weil andere Menschen das nicht verstehen, werden FASD-Betroffene oft ausgegrenzt.

Dr. Heike Kramer will verhindern, dass weitere Kinder mit FASD geboren werden. Die Ärztin ist für die Ärztliche Gesellschaft zur Gesundheitsförderung e.V. an Schulen unterwegs, um junge Leute zu warnen: Kein Schluck Alkohol in der Schwangerschaft ist die sicherste Methode, FASD beim Kind zu verhindern.

So wirkt Alkohol auf das Baby im Mutterleib

Eindringlich schildert Heike Kramer, wie Alkohol auf das Ungeborene wirkt: Über die Nabelschnur geht der Alkohol in die kindliche Blutbahn über. Hat die Mutter 0,5 Promille, hat das Baby ebenfalls 0,5 Promille. Es ist betrunken. Aber die Leber des Babys arbeitet noch nicht. Anders als bei der Mutter wird der Alkohol beim Kind nicht abgebaut. Außerdem ist der Alkohol auch im Fruchtwasser, in dem das Baby liegt und von dem es ständig trinkt. Die Folge: "Wenn die Mutter schon längst wieder komplett nüchtern ist, trinkt das Kind immer noch wieder neuen Alkohol und deswegen kann der bis zu zehnmal so lange im Kind wie in der Mutter bleiben", warnt Heike Kramer. Und: "Wenn eine Mutter täglich ein kleines Glas trinken würde, würde ihr Kind wohl nie nüchtern werden."

FASD-Puppe Fasi
Die Puppe Fasi mit den typischen Merkmalen von FASD-Betroffenen | Bild: BR

Heike Kramer hat eine Babypuppe entwickelt, die sie den Schülerinnen und Schülern in den Arm drückt. Fasi – so hat sie die Puppe genannt – sieht niedlich aus. Erst wenn man genauer hinsieht, bemerkt man, dass Fasi anders ist als andere Babys: Arme und Beine sind sehr dünn, die Oberlippe ist ganz schmal, die Rinne zwischen Nase und Lippen fehlt. Und der Kopf ist viel kleiner als bei gleichaltrigen Säuglingen. Denn das Gehirn wird durch das Zellgift Alkohol geschädigt und ist darum bei FASD-Kindern zu klein. 

Kein Schluck Alkohol in der Schwangerschaft

Etwa 12.000 Kinder mit FASD werden jedes Jahr in Deutschland geboren. Aber nicht alle Kinder, deren Mütter in der Schwangerschaft Alkohol getrunken haben, haben FASD. Heike Kramer: "Wir können nicht sagen, wann was wie viel ausmacht, wir wissen nur, es ist immer ein Risiko vorhanden und deswegen sagen wir: kein Schluck, kein Risiko!" Nur wer gar nichts trinkt, kann das Risiko von FASD ausschließen.

Zusammen mit Dr. Gisela Bolbecher, die Pflegemutter eines FASD-betroffenen Kindes ist, engagiert sich Heike Kramer auch im "FASD-Netzwerk Nordbayern e.V." Gemeinsam haben sie eine Wanderausstellung namens ZERO! kreiert, die durch Deutschland tourt. ZERO! führt jungen Leuten vor Augen, wie Alkohol in der Schwangerschaft wirkt und wie es den FASD-Betroffenen geht. Die Netzwerkerinnen schlagen ein neues Logo auf alkoholischen Getränken vor, das Schwangere vor dem Trinken warnt und fordern, dass dieses Logo verpflichtend auf allen Alkohol-Flaschen kleben muss. Außerdem verteilen sie Bierdeckel mit ihrem neuen Logo. Im "FASD-Netzwerk Nordbayern e.V." überlegen die Ärztinnen und weitere Engagierte auch, wie sie FASD-Betroffenen in Zukunft helfen können. Denn es gibt deutschlandweit kaum Betreuungseinrichtungen, die für Menschen mit dieser Störung geeignet sind.

Ziel vieler Betroffener: ein eigenständiges Leben

Michael und seine Pflegefamilie wünschen sich ein eigenständiges Leben für ihn. Eine kleine eigene Wohnung ganz in der Nähe der Familie wäre vielleicht eine Möglichkeit. Aber für viele andere Betroffene müssen andere Lösungen geschaffen werden. Nötig sind neue Wohnformen und Arbeitsmöglichkeiten, die mit den Schwierigkeiten, die die FASD-Betroffenen haben, umgehen können und gleichzeitig ihre Fähigkeiten nutzen und fördern. Denn sie sind oft handwerklich geschickt, künstlerisch begabt und einfühlsam, sie können sich gut um Tiere, Kinder oder alte Menschen kümmern. Sie brauchen nur feste Strukturen, immer gleiche Rituale und eine zuverlässige Unterstützung durch Bezugspersonen, die sie durch den Tag führen.

Autorin: Susanne Delonge (BR)

Stand: 07.11.2019 23:55 Uhr

Sendetermin

Sa., 02.11.19 | 16:00 Uhr
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Norddeutscher Rundfunk
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