Mo., 22.05.23 | 00:05 Uhr
Das Erste
Denis Scheck kommentiert die Top Ten Belletristik
Platz 10) Helga Schubert: "Der heutige Tag"
Helga Schubert ist seit 58 Jahren mit demselben, inzwischen schwer pflegebedürftigen Mann verheiratet. In ihrer unlarmoyanten Liebeserklärung "Der heutige Tag“ denkt sie darüber nach, was eine so lange Ehe mit einem macht und legt den Finger in die Wunde eines gesellschaftlichen Missstands: Wie wir hierzulande Pflegearbeit organisieren und die Augen verschließen vor der Überforderung der Angehörigen. Tatsächlich ein Buch, in das man sich verlieben kann.
9) Ewald Arenz: "Die Liebe an miesen Tagen"
Noch ein Liebesroman für fortgeschrittene Semester. Angenehm unaufgeregt und psychologisch souverän erzählt Arenz vom größten der Gefühle.
8) Renate Bergmann: "Das ist ja wohl die Krönung!"
Der 1974 geborene Torsten Rohde hat sich die Stilmaske einer 82-jährigen Omi mit DDR-Vergangenheit ausgedacht. Ihr Reisebericht zur Krönung von Charles III. nach London ist jüngste Beitrag zum weltweit gefürchteten deutschen Brachialhumor. Unterirdisch – ein klarer Fall von Majestätsbeleidigung.
7) Bonnie Garmus: "Eine Frage der Chemie"
Eine junge Naturwissenschaftlerin verliert die Liebe ihres Lebens und wird von ihren Kollegen ausgebeutet und missbraucht. Doch dann ergibt sich eine unwahrscheinliche Karriere als Fernsehköchin in den USA der 60er Jahre. Eine feministische tour de force, die gute Laune macht.
6) Dora Heldt: ""Liebe oder Eierlikör – fast eine Romanze"
Frühlingsgefühle auf Sylt, eine Dating-App namens "Liebe oder Eierlikör" und ein Beziehungs-Betrüger: aus diesen Standard-Ingredienzen mixt Dora Heldt einen zwar nur eine Handbreit vom Kitsch entfernten, aber annehmbaren Unterhaltungsroman.
5) John Irving: "Der letzte Sessellift"
John Irving, der Charles Dickens des 21. Jahrhunderts, vermag in diesem umfangreichen Roman noch einmal alle seine Stärken auszuspielen: mit ästhetisch nuancierten Mitteln moralische Empörung auszulösen durch einfühlsame Darstellungen queerer Lebensläufe, eine Schwindel auslösende Achterbahnfahrt durch die Geschichte der letzten 50 Jahre zu konstruieren, und nicht zuletzt für uns Leser eine grundsympathische Ersatzfamilie aus extrem bizarren Typen zu erfinden. Dies ist der später literarische Triumph eines großen Erzählers – und eine notwendige Erinnerung daran, was nur geglückte Romane leisten können: "Wenn man gut Bücher liest, kann man sich fast alles vorstellen", schreibt Irving. Recht hat er!
4) Martin Walker: "Troubadour"
Der schottische Frankreichenthusiast Martin Walker hat ein bisschen viel in den 15. Fall seines Serienhelden Bruno gepackt: die katalanische Unabhängigkeitsbewegung, russische Geheimdienste, spanische rechtsextreme Killer und und und ... Aber allein schon das Rezept der Kapaunenbrüste mit Estragon auf S. 353 lohnt die Lektüre dieses zwar biederen, aber zumindest kurzweiligen Krimis.
3) Martin Suter: "Melody"
Martin Suter hält mit einem italienischen Hackbratenrezept mit der Geheimzutat Ricotta auf S. 210 seines neuen Buchs dagegen ... Suter erzählt von einem Strippenzieher der Schweizer Politik und Industrie, der sich seine Biographie so lange zusammenlügt, bis er selbst daran glaubt. Zum ersten Mal kann ich einen Roman von Martin Suter loben: die doppelbödige Geschichte von der Lebensliebe und Lebenslüge einer grauen Eminenz besitzt Format und Tiefgang und muß den Vergleich mit Suters Vorbild William Somerset Maugham nicht scheuen.
2) Benjamin von Stuckrad-Barre: "Noch wach?"
Die Medienkampagne hinter dem neuen Stuckrad-Barre scheint mir größer als dieser Roman. Doch halten wir fest: Zuerst und vor allem ist "Noch wach?" eine große Sprachoper. Alle in diesem Roman reden Denglish wie Jil Sander auf Speed. Kostprobe: "Geht ja hier nicht um Frauen gegen Männer, geht ja hier um Okay-Sein gegen Evil-Sein. / Das stimmt. Let’s smash the system." Dann ist "Noch wach?" so wie die guten Romane von Tom Wolfe, an den auch Stuckrad-Barres souveräner Einsatz von Versalien erinnert, soziologisch sehr präzise in der Beschreibung eines Milieus, in diesem Fall eines Berliner Medienkonzerns. Drittens schließlich ist "Noch wach?" zu einem nicht unbeträchtlichen Teil Klatsch. "Alle Literatur ist Klatsch", wusste Truman Capote, "aber nicht jeder Klatsch ist Literatur." Dieser hier schon.
1) Robert Seethaler: "Das Café ohne Namen"
Robert Seethaler hat eine Spezialtität: Wie Sherwood Anderson oder Per Hultberg kann er chorisch erzählen, etwa die auf einem Friedhof Begrabenen zum Sprechen bringen. Nun wählt er sich die Gäste eines Cafés in einem Wiener Arbeiterviertel: "Simon musste lächeln, wenn er an all die verlorenen Seelen dachte, die sich jeden Tag in seinem Café zusammenfanden." So ergeht es auch Seethalers Leserinnen und Lesern.
Stand: 02.10.2023 22:56 Uhr
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