Verängstigte Frauen: Wie gefährlich sind nicht mehr zugelassene Brustimplantate?

Viele Frauen sind verunsichert, weil sie "BIOCELL"-Implantate mit strukturierter Oberfläche der Marke "Allergan" im Körper haben. Diese Implantate stehen schon seit Jahren in Verdacht, den Immunkrebs BIA-ALCL zu begünstigen.

Eine aktuelle Studie weist auf eine Prävalenz von 1:145 hin. Viele Frauen berichten in Online-Selbsthilfegruppen über diverse Krankheitssymptome durch die Implantate und wollen gegen den Hersteller klagen. Doch dafür müssen sie beweisen, dass die Implantate Ursache ihrer Erkrankung sind.

Text des Beitrags:

Zum ersten Mal hält sie es heute in den Händen: ihr kaputtes Brustimplantat. Genauso klebrig lag es in ihrer Brust, verursachte große Schmerzen.

Nicole Strupp, Betroffene:
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Also als ob jemand mit dem Messer da drin gegen den Knochen oder Muskel stechen möchte."

Das linke Brustimplantat sei wie aus dem nichts in ihrem Körper gerissen. Weil die Masse so klebrig gewesen sei, hätten die Ärzte das Silikon auch nicht vollständig entfernen können, sagt sie.

Nicole Strupp
Nicole Strupp | Bild: SWR

Nicole Strupp, Betroffene:
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Und dann sagte man mir, man weiß nicht, wie viel Silikon in die Brust eingelaufen ist, sondern man weiß nicht, ob das auch noch weiter in den Körper transportiert worden ist. Und so fing der ganze Spuk an. Ich hatte ständig Schmerzen in der Brust, ständig Angst."

Nicole Strupp zeigt uns ihre Ultraschallbilder von geschwollenen Lymphdrüsen in Armen und Achseln. Hatte das gerissene Implantat gesundheitliche Folgen?

Laut ärztlichem Befund könnten diese durch das Silikon verstopft worden sein. 16 Lymphknoten mussten ihr schon in vier Operationen entfernt werden, erzählt sie uns. Jetzt befürchtet sie, dass sie Lymphdrüsenkrebs bekommen könnte. Das hätten die Ärzte ihr so gesagt.  

Nicole Strupp, Betroffene:   
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Sobald man einen Knubbel spürt, denkt man: Okay, ist es was, ist es nichts? Die Angst ist eigentlich immer da."

Krebsgefahr durch Implantate?

Die Implantate, die sie im Körper hatte, stehen im Verdacht ALCL, einen seltenen Krebs des Immunsystems, zu begünstigen.

Bisher wurde dieser Krebs nur bei Personen mit Brustimplantaten festgestellt, so die Erkenntnisse diverser internationaler Studien. Es habe Todesfälle gegeben. Bei den ALCL-Erkrankungen seien die texturierten "BIOCELL"-Brustimplantate von "Allergan" besonders auffällig, so die Einschätzung der Wissenschaftler.

Eine französische Behörde hatte Ende 2018 einen Rückruf dieser Implantate angeordnet. Internationale Medien hatten darüber berichtet - in Deutschland zum Beispiel der SPIEGEL. "Allergan" folgte der Anweisung, sah damals aber "keine unmittelbare Gefahr für die Gesundheit von Frauen, denen ein texturiertes Brustimplantat eingesetzt wurde." Kurz nach dem Rückruf wurde "Allergan" vom US-Pharmariesen "AbbVie" aufgekauft.

Betroffene sind fassungslos, nicht über das Krebsrisiko informiert worden zu sein

Und die Frauen? Nicole Strupp sagt, sie sei nicht über den Rückruf oder das Krebsrisiko informiert worden - nicht einmal von ihrem damaligen Chirurgen in der Klinik, als sie zwei Jahre nach dem Rückruf wegen starker Schmerzen in der Brust bei ihm gewesen sei.   

Auch Andrea Klawitter habe erst Jahre später vom Rückruf erfahren. Der 58-Jährigen wurde nach einer beidseitigen Brustkrebserkrankung das Brustgewebe entfernt. Mitte 2018, also nur wenige Monate vor dem Rückruf, seien ihr die "Allergan"-Implantate noch als "besonders sicher" empfohlen worden, schildert sie uns. 

Andrea Klawitter, Betroffene:
"Modernes Silikon ist also 'absolut nicht schädlich'."

Aleksandra van de Pol, Autorin:
"'Absolut nicht schädlich' steht da?"

Andrea Klawitter, Betroffene:
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Ja, genau."

Ein Produkt mit, nach Expertenauffassung, potenziellem Krebsrisiko in sich getragen zu haben, macht sie noch immer fassungslos. Gerade, weil sie ja zuvor schon Brustkrebs hatte.

Andrea Klawitter, Betroffene:
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Man hat wirklich Angst, weil man ja nicht weiß: Wie geht es weiter? Das hat mich wirklich umgehauen, muss ich sagen. Ich habe fast zwei Monate gebraucht, um das überhaupt zu begreifen."

Doch warum habe ihr Arzt sie nicht direkt informiert, fragt sie sich. Gesetzlich sei er nicht dazu verpflichtet. Und das habe er ihr auch so gesagt.

Andrea Klawitter
Andrea Klawitter | Bild: SWR

Andrea Klawitter, Betroffene:
"Ich war fassungslos. Wenn man jetzt, sagen wir mal, einen Pudding beim Aldi kauft, da sind Glassplitter in irgendeiner Charge, dann wird in ganz Deutschland dieser Pudding zurückgerufen. Und bei so einem wichtigen Produkt, einem Medizinprodukt, was einem in den Körper gesetzt wird, wo man ja darauf vertraut erstmal, dass das wirklich auch in Ordnung ist und man nicht dadurch krank wird, da besteht dann vom Gesetzgeber keine Pflicht, den Patienten zu informieren. Darüber bin ich schon wirklich, wirklich schockiert gewesen."

Viele Frauen erfahren erst Jahre später von dem Rückruf

In den sozialen Netzwerken tauschen sich tausende Frauen über Probleme mit Brustimplantaten aus. Wir wollen von den Frauen mit "Allergan"-Implantaten wissen, wie sie von dem Rückruf erfahren haben, machen eine nicht repräsentative Umfrage in den Gruppen.

Von 235 Frauen, die nach eigener Aussage die texturierten "Allergan"-Implantate bekommen haben, geben 167 an, dass sie erst nach zwei Jahren oder später von dem Rückruf erfahren hätten. Die meisten geben an, über Medien oder Freunde und Familie über den Rückruf informiert worden zu sein. Nur 13 Frauen wurden darüber von ihrem Chirurgen informiert, und nur drei über das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte, kurz BfArM.

Das BfArM ist zuständig für die Risikobewertung von Medizinprodukten - also auch von Silikonimplantaten. Was hat die Behörde getan, um die Frauen über den Rückruf zu informieren? Auf REPORT MAINZ-Nachfrage teilt die Behörde mit:

Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM):
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Das BfArM hat (...) auf seiner Webseite Informationen (...) zusammengestellt." 

Es habe keine Notwendigkeit zu einer veränderten Nachsorge gegeben. Die Warnung der Patienten sei Sache der Ärzte.

Die Implantate seien eine tickende Zeitbombe, so die Fachärztin Marita Eisenmann-Klein

Doch auch die Ärzte informieren betroffene Frauen nicht immer. Marita Eisenmann-Klein, Fachärztin für ästhetische Chirurgie und ehemalige Vorsitzende des Weltverbandes plastischer Chirurgen, warnt schon lange vor den Risiken von Brustimplantaten und zeigt uns eine aktuelle internationale Studie. Das Ergebnis: Eine von 145 Frauen mit "BIOCELL"-Implantaten von "Allergan" könnte nach einer ästhetischen Brustvergrößerung den Krebs ALCL bekommen.

Marita Eisenmann-Klein
Marita Eisenmann-Klein | Bild: SWR

Marita Eisenmann-Klein, Leitende Ärztin Regenerative Medizin, Klinikum Fichtelgebirge:  
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Ich mache mir große Sorgen. Für mich ist das eine tickende Zeitbombe."

Doch wie viele Frauen haben das texturierte "Allergan"-Implantat noch im Körper? Offizielle Zahlen dazu gibt es nicht.

Wir sprechen mit verschiedenen Frauen aus Online-Selbsthilfegruppen. Sie zeigen uns Reste ihrer gerissenen Implantate, durch die sie glauben, krank geworden zu sein. Sie erzählen uns von ihrer Angst.

Dina John, Breast Implantat Illness Germany gUG:   
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Und dann kommt immer dieses Gefühl: Ist vielleicht noch irgendetwas in dir drin, was raus will?"

Anissa Midani, Breast Implantat Illness Germany gUG:   
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Du gehst zum Ultraschall, da sagt der Arzt dir: 'Undefinierbare Masse. Sieht aus, könnte Silikon sein, bis zur Achsel hoch.' Und du denkst dir: Ja, toll! Und du hast dieses Wissen, das kann Krebs machen."

Klagen gegen den Hersteller für Betroffene schwer

Nicole Strupp möchte sich juristisch wehren. Denn ihr Leben habe sich nach ihrem Implantat-Defekt total verändert. Dreimal die Woche geht sie schwimmen, um Schwellungen und Schmerzen in ihrem Arm vorzubeugen. Sie möchte gegen "Allergan" klagen. Doch sie müsse vor Gericht beweisen, dass ihre Erkrankung durch die Implantate verursacht worden sei, sagt sie.

Nicole Strupp, Betroffene:
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Wonach sollen wir suchen? Welchen Beweis möchte das Gericht haben? Ich meine, mehr wie krank kann man nicht mehr werden."

Doch Nicole Strupp hat das Gefühl, dass der Hersteller Klagen schon im Vorhinein verhindern möchte. Sie erzählt uns von einem Anruf, wo ein vermeintlicher "Allergan"-Vertreter ihr eine Geldsumme geboten habe, wenn sie ihre Implantate einschicken würde. Uns liegen mehrere Schreiben vor, in dem eine Firma Betroffenen, unter anderem Krebspatientinnen, eine Geldsumme anbietet. Damit seien, so geht aus dem Schreiben hervor, "sämtliche Ansprüche gegenüber der Allergan GmbH (…) abgegolten und erledigt."

Defekte Implantate, so steht es auf einem anderen Schreiben, müssten "an den Hersteller" zurückgeschickt werden.

Rechtsanwältin Maike Bohn vertritt rund 80 Frauen gegen "Allergan". Von solchen Angeboten hätten ihr mehrere Betroffene schon erzählt, sagt sie.

Maike Bohn
Maike Bohn | Bild: SWR

Maike Bohn, Rechtsanwältin:   
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Das ist lächerlich. Ganz viele sagen: 'Was soll ich denn damit? Und dann gebe ich noch die Implantate her.' Das ist so wie: 'Mein Schweigen soll erkauft werden', wird mir oft gesagt. Weil, wenn ich diese Silikonimplantate nicht mehr habe, ist es für mich äußerst schwierig, im Rahmen eines Gerichtsverfahrens meine Ansprüche durchzusetzen.“

Damit wollen wir das Unternehmen konfrontieren, doch erhalten auf unsere schriftlichen Fragen keine Antwort. Deshalb wenden wir uns an den neuen Eigentümer von "Allergan", die Firma "AbbVie". Doch auf all unsere Fragen bekommen wir nur eine knappe schriftliche Antwort vom Pressesprecher.

Allergan:   
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Ich habe die Fragen mit unseren Kolleg*innen von Allergan besprochen und wir haben entschieden, uns nicht dazu zu äußern."

Maike Bohn vermutet, der Hersteller wolle mögliche Beweismittel aus dem Weg räumen. Dabei seien die Implantate häufig das Einzige, was die Frauen überhaupt in den Händen hätten. Um die Offenlegung von Dokumenten oder eine Liste mit den Inhaltsstoffen kämpft Maike Bohn nämlich schon seit vielen Jahren vor Gericht.

Aktionsbündnis Patientensicherheit fordert eine Beweislastumkehr

Ruth Hecker vom Aktionsbündnis Patientenschutz fordert deshalb, die Hersteller generell stärker in die Pflicht zu nehmen und die Beweislast umzukehren.

Ruth Hecker
Ruth Hecker | Bild: SWR

Ruth Hecker, Aktionsbündnis Patientensicherheit:   
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Es ist unglaublich, dass die Frauen selber beweisen müssen, dass die Ursache der Erkrankung etwas mit dem Implantat zu tun hat. Das ist ein anstrengender, über Jahre schwelender juristischer Weg. Und das kann nicht so bleiben. Sondern es ist wichtig, dass die Medizinprodukte-Hersteller in die Beweislast kommen, dass ihr Produkt eben nichts mit der Neuerkrankung, Komplikation oder gesundheitlichen Problemen der Frau zu tun hat."

Das Gesundheitsministerium sieht das anders - teilt uns mit: Die in der Rechtsprechung vorgenommene Beweislastverteilung sei "eine gute Grundlage für eine gerechte Verteilung der prozessualen Lasten".

Kein Handlungsbedarf also? Die EU allerdings scheint das Problem sehr wohl erkannt zu haben. Die Kommission hat dem Parlament eine neue Richtlinie vorgelegt. Hersteller von Medizinprodukten sollen zur Offenlegung von Beweismitteln verpflichtet werden, heißt es darin. Doch eine Umsetzung wird noch Jahre dauern - was am Ende rauskommt, weiß noch keiner. So viel Zeit haben Frauen wie Nicole Strupp aber nicht. Sie brauchen jetzt Klarheit.

Stand: 12.07.2023 16:49 Uhr