Mo., 17.09.12 | 23:35 Uhr
Das Erste
Geschichte im Ersten: Vater blieb im Krieg
Kindheit ohne Vater nach dem Zweiten Weltkrieg
Fast 2,5 Millionen Kinder in Deutschland haben im Zweiten Weltkrieg ihren Vater verloren. Beinahe jedes vierte Kind wuchs ohne männlichen Elternteil auf. Aber bis heute hat sich kaum jemand für das Schicksal dieser vaterlosen Kinder interessiert. Dabei unterschied sich ihr Leben in vielen Dingen vom Leben derer, die mit beiden Elternteilen aufwuchsen. Bis ins hohe Alter hat die Vaterlosigkeit die Biografien der Betroffenen geprägt und viele leiden noch heute darunter.
Die SWR-Dokumentation erzählt anhand ausgesuchter Lebensgeschichten, wie die Kinder versuchten, mit dem Verlust des Vaters zurechtzukommen. In einer Gesellschaft, die das heile Vater-Mutter-Kind-Modell propagierte und vom Krieg nichts mehr wissen wollte, war das besonders schwierig. Viele bezweifelten, dass die Mütter in der Lage sein würden, ihre Kinder alleine richtig zu erziehen. Oft standen die vaterlosen Kinder deshalb unter besonderer Beobachtung von Pädagogen und Politikern – sie wollten "Verwahrlosung" und "Sittenverfall" zuvorkommen.
In Wirklichkeit übernahmen die Kinder ohne Väter früh Verantwortung, halfen ihren Müttern, den schwierigen Nachkriegsalltag materiell und psychisch zu bewältigen. Sie lernten fleißig und strengten sich besonders an, den sozialen Status zu erreichen, den die Familie vor dem Krieg innehatte. Dennoch vermissten sie den Vater sehr und wollten nicht wahrhaben, dass er nicht mehr wiederkommen würde. Jahrelang warteten sie auf dessen Rückkehr – manche können sich bis heute nicht mit dem Verlust abfinden.
Gunther Emmerlich
"Ich gebe nicht auf, den Ort zu finden, um trauern zu können um einen Mann, den ich nicht kenne und der mein Vater war."
Einer von ihnen ist der Sänger und Entertainer Gunther Emmerlich. Er hat in einem Buch über seine Erfahrungen als vaterloses Kriegskind geschrieben. Darin erzählt er, wie er mit seiner Mutter bereits kurz nach Kriegsende begann, mit Hilfe von Suchdiensten nach dem Vater zu suchen – vergebens. Dennoch lässt ihn die Nachforschung über das Schicksal seines Vaters bis heute nicht los. Immer noch hofft er, in den Archivaufnahmen historischer Fernsehdokumentationen seinen Vater zu entdecken.
Erich Hauke
"Ich hatte ja eine Vision: Wenn ich ein bisschen älter bin und mich besser auskenne auf der Landwirtschaft, dass ich dann immer mehr arbeiten kann und dann auch ein bisschen mehr zu essen bekomme für meine Geschwister."
Wie selbstlos vaterlose Kinder ihre Familie unterstützen, erzählt die Geschichte von Erich Hauke aus Ulm. Weil seine Mutter überfordert ist, die vielen Kinder durchzubringen, verlässt er freiwillig seine Familie und geht auf einen Bauernhof, um als Zehnjähriger dort für den Lebensunterhalt seiner Geschwister zu arbeiten. Der Bauer wird ihm zum Vaterersatz, dennoch hofft er lange Jahre vergebens, dass er ihn "Papa" nennen darf.
Birgitta Dobke
"... weil ich auch manchmal dann merkte, so gerade an Feiertagen, Weihnachten vor allen Dingen, dass sie dann sagte: "Alle haben jetzt einen Vater, sind diese Familien zusammen. Und wir beide sind alleine."
Als Birgitta Dobke aus Velbert sieben Jahre alt ist, hat sich fast schon damit abgefunden, dass sie ohne Vater aufwächst. "Meine Mutter musste schon gucken, dass sie das organisiert hat, dass sie das plante, dass sie vorkochte, dass ich mein Essen selber warm machte, mit sieben Jahren, ... es ist alles gut gegangen, aber ich denke, ihr hat das Sorgen gemacht." Sie leidet darunter, dass ihre Mutter aus Trauer um den fehlenden Vater nicht mehr fröhlich sein kann. "Ich habe dann irgendwann gedacht, meine Güte, irgendwas muss doch mal passieren, damit sie immer fröhlich durch dieses Leben geht, oder fröhlicher, so. Dann wollte ich eine Anzeige aufgeben und einen Vater suchen."
Helga Gotschlich
"Mit der Wahrheit muss ich leben, mit meiner Enttäuschung, mit meinem Zorn. ... Aber das, was ich weiß, macht mich ruhig und ich denke, dass ich mein Ziel erreicht habe."
Besonders eindrücklich ist die Geschichte von Helga Gotschlich aus Dresden. Sie erzählt, wie sie ihre Mutter zur Rede stellt, als sie bemerkt, dass die Mutter die Hoffnung auf die Rückkehr des Ehemanns aufgegeben hat. Als die Mutter daraufhin einen Nervenzusammenbruch hat, beschließt sie, in der Familie nicht mehr über den fehlenden Vater zu sprechen. "... ich hatte ein großes Gefühl ... Schuld auf mich geladen zu haben. Und ich habe ihr geschworen, nie wieder von meinem Vater zu sprechen und ihr nie wieder Fragen nach ihm zu stellen."
Dennoch kann sie sich jahrelang nicht mit dem Verlust des Vaters abfinden. Als sie pensioniert wird, macht sich die gelernte Historikerin auf Spurensuche. Jahrelang recherchiert sie in Archiven, spricht mit Menschen, die ihren Vater gekannt haben könnten. Dann schließlich findet sie die bittere Wahrheit heraus: Ihr Vater hat den Krieg überlebt – aber er ist nie zu seiner Familie zurückgekehrt. Dennoch hat sie ihren Frieden mit dem "verlorenen" Vater gemacht.
Film von Gabriele Trost
Kommentare