So., 30.07.23 | 23:35 Uhr
Das Erste
Die Lust am Widerstreit – Biografie über Schriftstellerin Brigitte Reimann
Muss nicht jede Generation neuerlich nach den Sternen greifen und die Welt zum Besseren wenden wollen? Aber ja doch. In diesem Auszug aus einem Radiointerview mit Brigitte Reimann 1967 wird klar, wofür die junge, damals Anfang 30-jährige Schriftstellerin mit all ihren Sinnen trachtet: Nach dem eigenen Ideal die Welt zum Besseren wenden.
"Eine Frau, die sich einmischen wollte"
Ihrem Tagebuch erklärt sie: "Ich bin so gierig nach Leben". Was für eine Selbstbehauptung. Was für ein Verlangen. Für den Literaturwissenschaftler Carsten Gansel zeige diese Aussage Brigitte Reimanns, was sie schon früh realisiert habe: "Sie war eine Frau, die sich einmischen wollte, eine Frau, die schreiben wollte, eine Frau, die natürlich selbstverständlich in diesem Fall auf Gleichberechtigung abgezielt hat."
"Ich bin so gierig nach Leben" heißt auch die gerade erschienene umfassende Biographie von Brigitte Reimann. Darin beschreibt Gansel das Leben der Schriftstellerin entlang der Konfliktlinie von individuellem Eifer, ihrer Überzeugung und politischen Gängelung. So heißt es in ihrem Roman "Geschwister": "Wir haben ein Recht, Fragen zu stellen, wenn uns eine Ursache dunkel, ein Satz anfechtbar, eine Autorität zweifelhaft erscheint." Reimann spreche schon sehr früh "von dem, was man Zivilcourage nennt, von einer Wahrheitssuche", erkennt Gansel, "sie spricht von dem Anspruch, sich einzumischen und nicht zu schweigen. Und das sind moralische Ansätze, die sie auch ihren Figuren mitgibt."
Reimanns Ideal des Sozialismus verunglückt an der Realität
Brigitte Reimann wird 1933 in Burg bei Magdeburg geboren. Sie verbringt die ersten sechsundzwanzig Lebensjahre in der Kleinstadt unter dem Dach ihrer Familie und ihrer drei jüngeren Geschwister. Bruder Lutz wird später in den Westen gehen, für sie eine Tragödie. Reimann liest mit neun Jahren Shakespeare, hat eine unbeherrschte Lesewut und weiß, dass sie Schriftstellerin sein wird. Sie ist mitgerissen von der Idee, nach den Verbrechen Nazideutschlands, eine menschenfreundliche, gerechte Gesellschaft zu gestalten. Sie nimmt den Sozialismus beim Wort. Doch ihre Ideale verunglücken immer wieder an der Wirklichkeit.
"Der Geist bei uns lebt illegal. Was für eine Welt!"
Als Schriftstellerkollege Erich Loest, der Philosoph Wolfgang Harich und der Verleger Walter Janka 1957 in einem Schauprozess wegen "konterrevolutionärer Gruppenbildung" zu Haftstrafen verurteilt werden, ist Reimann schockiert: "Der Geist bei uns lebt illegal. Was für eine Welt!"
1960 geht Reimann nach Hoyerswerda, der Häuserfabrik. Erstmals entsteht eine ganze Stadt in Plattenbauweise. Sie geht zusammen mit dem Schriftsteller Siegfried Pitschmann, ihrem zweiten Ehemann, um sich dort sogleich für den dritten zu begeistern: "Kann man denn zwei Männer zugleich lieben?", fragt sie sich. Sie arbeitet in einer Reparaturbrigade im Kraftwerk "Schwarze Pumpe". Die Kunst soll sich gefälligst dem Leben aussetzen, ihr Stoff für Literatur.
Anschreiben gegen jeden Widerstand
Umgeben von der aufgerissenen Erde, entstehen in Hoyerswerda ihre wichtigen Romane, über die junge Architektin "Franziska Linkerhand" und "Die Geschwister", mit ihren beeindruckenden Frauen als Heldinnen. Im Grunde schreibt Reimann jedoch über sich. Als ihr Bruder Lutz in den Westen flüchtet, fühlt sie sich verraten und missverstanden.
Im Tagebuch heißt es: "Spüre zum ersten Mal schmerzlich die Tragödie unserer zwei Deutschland. Die zerrissenen Familien, das Gegeneinander von Bruder und Schwester – welch ein literarisches Thema! Warum schreibt niemand ein gültiges Buch?" Reimann tut es und beschreibt in "Die Geschwister" eine Flucht, das Ringen umeinander und den Abrieb jugendlichen Enthusiasmus an der betongewordenen Realität. Das Buch erscheint 1963 in der DDR und wird ein Bestseller.
In den USA und Großbritannien neu entdeckt
In diesem Jahr sind "Die Geschwister" in den USA und in Großbritannien erschienen, übersetzt von Lucy Jones. Gerade arbeitet sie an einer Übersetzung von Franziska Linkerhand: "Mich hat überrascht, dass ich eine sehr moderne Stimme in der Literatur von Reimann gefunden habe. Durch ihre Art zu schreiben vermittelt sie einen Hunger auf Leben, eine Sehnsucht nach einer Idee, verwoben mit ihrer Persönlichkeit."
Auch Gansel habe fasziniert, dass Reimann "diese beiden Momente immer miteinander verbunden" habe. Auch er habe in seiner Biographie versucht, die Komplexität der damaligen Verhältnisse in den Blick zu nehmen – ohne "einfache Wahrheiten und Klischees". So habe es in Reimanns Leben große Zweifel, aber auch Zuversicht, Hoffnung und Optimismus gegeben. Um das zu verstehen, ist er, wie er sagt, "tief in den Zeitschacht gestiegen".
Pionierin der Selbstermächtigung
Gansel ermöglicht mit seiner umfangreichen und mit zum Teil unerschlossenem Material versehenen Biographie neue Einblicke in das komplexe literarische Werk Brigitte Reimanns und das kulturelle Leben in der DDR. In ihrer Unangepasstheit sei Brigitte Reimann damals für viele Menschen ein Vorbild gewesen – und trifft mit ihrem Frauenbild den Nerv der heutigen Zeit. Der New Yorker feiert die Schriftstellerin als Pionierin der Selbstermächtigung, der es gelang, "die berauschende, unmögliche Verlockung Wirklichkeit werden zu lassen: die eigenen Ideale zu leben".
Es lohnt sich, Brigitte Reimann (neu) zu entdecken: Gewiss wegen des zeitgeschichtlichen Gewinns. Und weil ihre Konflikte, die sie auszuhalten geschafft hat, ihr Aufbegehren gegen einen Zustand der Welt, ihre von der Suche nach dem Sinn des Lebens getriebenen Heldinnen so alt und jung sind wie Menschen über ihre Existenz nachdenken.
Im Juli wäre Brigitte Reimann neunzig Jahre alt geworden. Sie starb 1973 mit nur neununddreißig Jahren an einer Krebserkrankung.
Autor: Jens-Uwe Korsowsky
Stand: 02.08.2023 10:29 Uhr
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