So., 31.08.25 | 23:05 Uhr
Das Erste
Es geht um die Opfer
Langzeitdoku über die Folgen von Hanau
Am 19.Februar 2020 wurden in Hanau neun junge Menschen Opfer eines rassistischen Anschlags, nur weil der Mörder sie nicht als Deutsche ansah. Marcin Wierzchowskis Dokumentarfilm "Das Deutsche Volk" erzählt die Geschichte dieses Verbrechens konsequent aus der subjektiven Perspektive der Hinterbliebenen der Opfer, begleitet sie über vier Jahre durch Trauer, Ohnmacht und Wut und bei ihrem Kampf um Gerechtigkeit. Ein bewegendes Zeitdokument, das gleichzeitig strukturellen Rassismus und rechte Narrative offenlegt, die weit über die Tat hinausweisen. Am 4. September kommt "Das Deutsche Volk" in die Kinos. ttt hat den Regisseur in Hanau getroffen und mit ihm über seinen Film gesprochen.
Bedrückend aktuell
Vili Viorel Păun war der einzige Sohn von Nicolescu Pāun. Er war 22 als er erschossen wurde. Vili hatte den Attentäter in seinem Auto verfolgt, gleichzeitig rief er mehrfach den Polizei-Notruf. Vergeblich. Der Notruf war nicht erreichbar! Der Dokumentarfilm "Das Deutsche Volk" begleitet die Hinterbliebenen vier Jahre lang. Konsequent aus der Perspektive von Opfer-Angehörigen und Überlebenden des Anschlags erzählt, ist der Film von bedrückender Aktualität. "In dem Film versuche ich zu zeigen, wenn das überhaupt möglich ist mit den Mitteln des Films, was so ein Anschlag auslöst, welche Dimension so ein Trauma hat", sagt Regisseur Marcin Wierzchowski.
Dokumentation vom ersten Tag an

Der Frankfurter Filmemacher fährt am Morgen nach dem Anschlag nach Hanau. Von Tag eins ist er mit der Kamera dabei. Lernt die Opferfamilien immer besser kennen. "Aus der Erfahrung NSU, Halle, Die anderen Mordserien, damals auch Solingen, das kommt alles in einem hoch und dann ist das so nah. Da war mir klar, ich muss das erst mal drehen und dokumentieren", erinnert sich Marcin Wierzchowski. Der Film kommentiert nichts, lässt allein die Hinterbliebenen sprechen.
Aufklärung durch die Angehörigen
Ein Gerichtsprozess fand nie statt, da sich der Mörder durch Suizid entzog. Der jahrelange Kampf um Aufklärung durch die Familien und ihre Unterstützer beginnt. Wie fühlt es sich an, wenn auf rassistische Morde rassistische Diskriminierung folgt? Wenn nicht nur der Attentäter als rechtsextrem bekannt war, sondern auch Beamte des Sondereinsatzkommandos Teil eines rechtsradikalen Netzwerks waren. Recherchen über das Versagen von Polizei und Behörden mussten Angehörige mit Unterstützung der "Initiative 19. Februar" vorantreiben. "Nach jedem Terrorakt hören wir, das darf nicht sein, Halle ist das letzte, Mölln darf es nicht mehr geben. Aber in zwei, drei Monaten, sage ich, da passiert wieder was", prophezeite Çetin Gültekin, der Bruder des erschossenen Gökhan Gültekin, am 14.5.2020 bei einem Treffen mit Politikern im Hessischen Landtag. Und Ajla Kühn, die Schwester des ermordeten Hamza Kurtović fragt: "Müssen wir gezwungen sein, Beweise zu liefern? Müssen wir gezwungen sein, Gutachten in Auftrag zu geben und uns darum zu kümmern?"
Wer gehört dazu?
Die Opferfamilien hätten sich in Nähe des Brüder-Grimm-Nationaldenkmals einen Erinnerungsort gewünscht. Warum? Weil auch die neun Ermordeten “Kinder von Hanau” seien. Wierzchowskis Film stellt nicht nur im Titel die Frage, wer denn “Das deutsche Volk” eigentlich ist. Die hochemotionalen Schwarz-Weiß-Szenen machen seinen Dokumentarfilm zu einer aktuellen, überzeitlichen Erzählung: das Ringen darum, wer dazugehört und wer nicht, ist ernst – und kann tödlich enden. Der Anschlag und der Umgang im Nachhinein damit habe zu einer riesigen Wut und Enttäuschung geführt, weil eigentlich alle dachten, sie seien Teil dieser Gesellschaft meint Marcin Wierzchowski. "Wann ist man endlich deutsch? Ich glaube, der Film beantwortet diese Frage überhaupt nicht, aber er soll sie in den Raum werfen!"
Autorin: Brigitte Kleine
Stand: 31.08.2025 17:28 Uhr
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