SENDETERMIN So., 18.05.25 | 23:05 Uhr | Das Erste

Memorial – Erinnern ist Widerstand

Die in Russland verbotene Menschenrechtsorganisation will aus dem Exil weiterarbeiten

Memorial – Erinnern ist Widerstand | Video verfügbar bis 18.05.2027 | Bild: picture alliance/dpa | Bodo Schackow

1987 – Michail Gorbatschows "Glasnost und Perestroika" hatten seit kurzem die erstarrte Sowjetunion aufgerüttelt – da wurde in Moskau eine Organisation gegründet, die sich schnell über das ganze Land ausbreitete: Ihr Ziel: Die stalinistische Gewaltherrschaft und die Repressionen der Jahrzehnte nach Stalins Tod aufzuarbeiten, den Millionen namenlosen Opfern eine Stimme zu geben, ihre Schicksale zu erzählen. Wichtigste Grundlage ihrer Arbeit war, dass unter Gorbatschow die bis dahin geschlossenen Partei und Geheimdienstarchive geöffnet wurden. Aber schon sehr bald wurde die schmerzhafte Auseinandersetzung mit der Geschichte überlagert und verdrängt von ganz aktuellen und existentiellen Schmerzen: In Russland brach in den 90er-Jahren ein unvorstellbares ökonomisches und soziales Chaos aus. Die Menschen mussten um ihr tägliches Überleben kämpfen. 1994 kam der erste Tschetschenienkrieg, 1999 der zweite. Russland lebte nur noch im Kampf mit der Gegenwart. Unter Putin geriet die zunehmend unbequeme "Memorial"-Organisation mehr und mehr unter Druck, weil sie begann, das neue Unrecht anzuprangern. Das Ende von "Memorial" wurde 2016 eingeläutet: Die Organisation musste sich als "ausländischer Agent" registrieren lassen, Ende 2021 wurde "Memorial" endgültig verboten. Im Oktober 2022 bekam "Memorial" den Friedensnobelpreis, am selben Tag wurde das Büro der Organisation in Moskau beschlagnahmt.

"ttt"sprach mit Irina Scherbakowa, Mitgründerin von "Memorial" und mit der Osteuropahistorikerin Susanne Schattenberg über die Frage, wie "Memorial" vom Ausland aus, ihren einstigen Auftrag noch erfüllen kann und ob Widerstand im Exil möglich ist.

Wie "Memorial" zum russischen Feindbild wurde

Bild von der verschlossenen "Memorial" Zentrale aus dem Buch "Memorial – Erinnern ist Widerstand"
Bild von der verschlossenen "Memorial" Zentrale aus dem Buch "Memorial – Erinnern ist Widerstand" | Bild: C.H. Beck/ "Memorial"

Am 14. Oktober 2021 stürmt ein Mob junger Männer die Moskauer "Memorial" Zentrale während einer Filmvorführung. Sie haben ein Kamerateam eines kremltreuen Senders dabei und beschimpfen die Anwesenden als "Faschisten". Doch als die Polizei kommt, werden nicht etwa die Angreifer festgehalten – sondern die Mitarbeiter von "Memorial". Das Bild der mit Handschellen verriegelten Tür wird zum Symbol für Russlands Verhältnis zur Wahrheit über die eigene Geschichte – denn dafür hat "Memorial" über 30 Jahre gekämpft. Zwei Monate später, im Dezember, ordnet das Oberste Gericht die "Liquidierung" dieser größten Menschenrechtsorganisation des Landes an. Kurz darauf beginnt Putins Großinvasion der Ukraine – ein Krieg, für den er die Geschichte verdreht, um der Ukraine sein Existenzrecht abzusprechen. Ein Krieg der Lüge. "In Russland wird die Geschichte auf so eine Weise missbraucht. Das kann man ja vielleicht mit stalinschen Zeiten vergleichen. Also wenn dieser Ukraine-Krieg möglich geworden ist, kann man sagen, dass wir natürlich verloren haben", erzählt Irina Scherbakowa.

"Memorial" will das Schweigen über die Vergangenheit brechen

Irina Scherbakowa Mitbegründerin von "Memorial"
Irina Scherbakowa Mitbegründerin von "Memorial" | Bild: Das Erste

Verloren? Seit über 35 Jahren kämpfen Irina Scherbakowa und "Memorial" gegen Lügen und Verdrängung. Für die Aufarbeitung erst der sowjetischen, später der russischen Gewaltgeschichte. Ende der Achtziger-Jahre gehört sie zu den Mitbegründern von "Memorial": Es ist die Zeit von Gorbatschows Perestroika. "Memorial" will das Schweigen über den stalinistischen Terror brechen: Schicksale sichtbar machen, Täter benennen, Gedenkorte schaffen. "Denn", sagt sie, "wenn wir die stinkende Leiche des totalitären Systems nicht wegräumen, wird sie zurückschlagen. Als Perestroika begann, hatte man das Gefühl, es gibt wirklich eine Mainstreambewegung und die wird immer stärker. Hört auf mit den Lügen und wir wollen die Wahrheit wissen – also das war sozusagen die Hauptparole dieser Zeit. Alle Zeitungen damals und Zeitschriften, die versuchten, Zensur durchzubrechen. Die erschienen in Millionenauflagen und die Menschen standen Schlange vor den Zeitungskiosken, um das zu erwischen. Diese Zeit war für mich die bewegendste Zeit meines Lebens. Ich habe nie erwartet, dass ich das erleben werde."

Als Aufarbeitung zur Bedrohung wurde

Irina Scherbakowa ist Germanistin, Historikerin und Publizistin
Irina Scherbakowa ist Germanistin, Historikerin und Publizistin | Bild: Das Erste

Es ist ein Glück, das nicht anhält. Als 1992 die Archive geöffnet werden, fehlt vielen im Land schon die Kraft und der Wille, sich den Schrecken der Vergangenheit zu stellen. Die Gegenwart ist schon schrecklich genug, in einem Land kurz vor dem Staatsbankrott. Als "Memorial" beginnt, russische Kriegsverbrechen in Tschetschenien aufzudecken, machen sie sich auch die neue Macht zum Gegner. Unter Wladimir Putin erlischt das Interesse, die eigenen Vergehen ans Licht zu zerren, vollends. Der neue Präsident verspricht die Rückkehr zu alter Größe – aber dafür muss das Alte auch groß sein. "Für Populismus ist dieser Mythos von Vergangenheit eine ganz große Rolle. Also mit 'Make America great again oder Russland …' und was für ein Russland? Das ist oft ein sehr diffuses Bild. Was für ein Russland? Was soll da groß werden?", so Scherbakowa.

Russlands Umgang mit der eigenen Geschichte

Susanne Schattenberg, Direktorin der Forschungsstelle Osteuropa in Bremen
Susanne Schattenberg, Direktorin der Forschungsstelle Osteuropa in Bremen | Bild: Das Erste

Putin nimmt sich nur, was ihm nutzt: Stalin, weil die Sowjetunion durch dessen Sieg im Weltkrieg zur Supermacht wurde. Verbrechen? Stören: In der einzigen Gulag-Gedenkstätte Russlands in Perm wird heute eher des Wachpersonals gedacht als der Häftlinge. Die waren doch schließlich rechtmäßig dort ... Die Vergangenheit muss in Russland schon länger die Zukunft ersetzen. "Putin nutzt eigentlich Geschichte als Ersatzvision für Russland. Von daher ist es ein vollkommen instrumenteller Zugang zur Geschichte und eben auch wirklich etwas, was er nicht aus der Hand geben will. Also von daher eben auch diese große Gefahr letztlich durch 'Memorial', weil die ja dafür standen und stehen, Geschichte analytisch, wissenschaftlich, aufklärerisch zu betrachten und nicht als Machtinstrument zu missbrauchen", erklärt Susanne Schattenberg, Direktorin der Forschungsstelle Osteuropa in Bremen. Für sie wurde "Memorial" so zum eigentlichen Gedächtnis Russlands. Ein Gedächtnis, dem sich das Land bis heute nicht stellen will.

"Memorial" und der Preis der Aufklärung

Historikerin Susanne Schattenberg
Historikerin Susanne Schattenberg | Bild: Das Erste

Irina Scherbakowa, 2011 in der Moskauer "Memorial" Zentrale. Hier befand sich ihr riesiges Archiv, hier schrieben sie Geschichtswettbewerbe für Schüler im ganzen Land aus. Denn, so sagt sie, ohne Aufarbeitung der Gewalt, ohne Bruch mit der Vergangenheit wird sich Russland nicht ändern. Doch genau deshalb hat dieses Russland sie immer stärker bekämpft, 2016 zum "ausländischen Agenten", zum Feind erklärt. 2021 dann schließlich die "Liquidierung". Aber – haben sie wirklich verloren? "Letztlich waren sie, würde ich sagen, viel zu erfolgreich. Sie wurden von Putin am Ende so gefürchtet als gesellschaftliche Kraft, dass er eben unbedingt diese Organisation verbieten wollte, bevor er seinen Vollangriff auf die Ukraine startet, und dass es so eine moralische Instanz gibt, das sollte auf jeden Fall vermieden werden", so Schattenberg.

"Memorial" arbeitet weiter aus dem Exil

85 Prozent des Archivs konnten digitalisiert werden
85 Prozent des Archivs konnten digitalisiert werden | Bild: Das Erste

Irina Scherbakowa lebt heute in Berlin. "Memorial" ist im Exil, agiert als internationales Netzwerk. Immerhin: 85 Prozent des Archivs konnten digitalisiert und außer Landes gebracht werden. Aber – kann man aus dem Exil noch ins Land hineinwirken? Gibt es Hoffnung auf Veränderung? Da wird selbst die kämpferische Irina Scherbakowa leise: "Es ist schwer, jetzt optimistisch zu bleiben. Einerseits. Aber andererseits ich kann es mir nicht vorstellen, dass Menschen so lange im Bann dieser Lüge bleiben können. Irgendwann mal müssen Menschen doch erwachen."

Autor: Tim Evers

"Memorial – Erinnern ist Widerstand"
Erschienen am 15. Mai 2025
Verlag C.H. Beck
ISBN 978-3-406-83216-1

Stand: 18.05.2025 21:37 Uhr

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