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"Die Postkarte"

Anne Berests Spurensuche in ihrer jüdischen Familie

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Anne Berests Spurensuche in ihrer jüdischen Familie | Video verfügbar bis 04.06.2024 | Bild: WDR

Mit "Die Postkarte" über das Schicksal ihrer Vorfahren und die Suche nach der eigenen jüdischen Identität gelang der französischen Schriftstellerin, Drehbuchautorin und Regisseurin Anne Berest im Herbst 2021 ein literarischer Coup. Der in Frankreich von der Kritik gefeierte und mehrfach ausgezeichnete Bestseller erscheint jetzt in deutscher Übersetzung beim Berlin Verlag. ttt hat die Autorin in Paris getroffen.

Nachricht aus der Vergangenheit

Die titelgebende Postkarte erreicht die Familie Berest im Januar 2003 – eine verstörende Nachricht inmitten zahlreicher Neujahrswünsche. Eine Karte ohne Absender, ohne Unterschrift, nur mit vier Namen, in seltsamer Schrift wie in einer Liste untereinandergeschrieben: Ephraïm, Emma, Noémie und Jacques.

Von ihrer Mutter erfährt Anne Berest, dass es die Vornamen ihrer Urgroßeltern, ihrer Großtante und ihres Großonkels sind. Bisher hatte sie so gut wie nichts von ihnen gehört.  Und auch jetzt fragt sie nicht weiter nach. Erst Jahre später, kurz vor der Geburt ihrer eigenen Tochter, lässt sie sich die Geschichte der Familie Rabinovitch, der Vorfahren ihrer Mutter, erzählen. Aus Russland stammend, sind sie über viele Umwege nach Frankreich gekommen – immer auf der Suche nach einem Ort, an dem sie als Juden sicher und ohne Angst leben können. "Frankreich war für uns Juden das Land des Lichts, das Land der Französischen Revolution. Der einzige Ort, wo die Juden wie gleichberechtigte Staatsbürger betrachtet wurden. Mein Urgroßvater Ephraïm träumte von Frankreich. Ein altes jüdisches Sprichwort sagt 'glücklich wie ein Jude in Frankreich'. Ephraïm hätte sich niemals vorstellen können, dass der französische Staat ihn in den Tod schicken würde." Doch genau das geschieht. Ephraïm, Emma sowie ihre beiden Kinder Noémie und Jacques werden deportiert und sterben 1942 in Auschwitz. Nur die älteste Tochter Myriam, Anne Berests Großmutter, kann fliehen und überlebt.

Auf den Spuren der Vorfahren

Anne Berest ist tief bewegt, lässt aber die Herkunft der Postkarte weiter auf sich beruhen. Bis ihre Tochter eines Tages auf dem Schulhof mit Antisemitismus konfrontiert wird. "Meine Tochter fragte ihre Großmutter, was es bedeutet, jüdisch zu sein. Die Großmutter fragte: 'Warum schaust du so verärgert?' Und meine Tochter antwortete: 'In der Schule sagen sie, dass man dort keine Juden mag.' Damals war meine Tochter sieben Jahre alt. Ich selbst war wie gelähmt. Unfähig, das Problem zu lösen. Es hat mir Angst gemacht. Stattdessen habe ich an die Postkarte gedacht, nachdem ich sie 15 Jahre lang vergessen hatte. Und habe beschlossen, das Rätsel der Postkarte zu lösen."

Sie bittet ihre Mutter um Hilfe, engagiert einen Privatdetektiv und einen Graphologen, um herauszufinden, was damals tatsächlich geschah. Ihre Recherchen führen sie auf eine Zeitreise und stellen sie vor die Frage, was jüdische Identität damals und heute bedeutet. "Das Buch handelt von einem Kapitel europäischer Geschichte, das sich über hundert Jahre erstreckt. Denn es beginnt 1919 und endet 2019. Es endet in der heutigen Zeit, mit mir, meiner Mutter und meiner Tochter, und von der Recherche, die wir im Hier und Heute in Paris betrieben haben. Dabei haben wir ein ganzes Jahrhundert durchquert."

Die große Stärke ihres autofiktionalen Romans liegt in der Verknüpfung von individuellem und kollektivem Erleben: "Das Buch erzählt von Migration. Und davon, was es bedeutet, seine Heimat zu verlassen und sich eine neue Heimat zu suchen. Und wie sich das auf die nachfolgenden Generationen auswirkt. Dieses Buch ist im Grunde eine Erzählung der dritten Generation, zu der ich ja gehöre." Und es greift ein in Frankreich noch immer sensibles Thema auf: die Kooperation des Vichy-Regimes mit den deutschen Besatzern. "Unsere Rolle ist es, über die Verantwortung der französischen Polizei und des Staates zu sprechen und die Geschichte nicht zu verfälschen." Gerade jetzt nicht, da sich das gesellschaftliche Klima auch in Frankreich verändert. "Ja, man hört heute mehr antisemitische Äußerungen, die vorher nicht so artikuliert wurden. Das ist Grund zur Sorge. Wir müssen aufpassen, denn die Welt ist insgesamt fragiler geworden. Es ist wichtig, dass wir alle untereinander Solidarität üben."

Buchtipp

Anne Berest: Die Postkarte.
Berlin Verlag 2023, Preis: 28 Euro

Autorin des TV-Beitrags: Hilka Sinning

Die komplette Sendung steht am 04. Juni ab 20 Uhr zum Abruf in der Mediathek bereit.

Stand: 04.06.2023 18:21 Uhr

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