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„Mit Männern leben“

Manon Garcia über den Pelicot-Prozess und die Vergewaltigungskultur, die sexuelle Gewalt erst möglich macht

„Mit Männern leben“ – Manon Garcia über den Pelicot-Prozess und Vergewaltigungskultur | Video verfügbar bis 14.09.2027 | Bild: hr

Avignon, vor einem Jahr. Der Pelicot-Prozess löst Entsetzen aus. Weltweit wird darüber berichtet. Eindrücke von damals aus den internationalen Medien: „Nach Frankreich – zu einem Prozess, der die Nation ergreift und international Schlagzeilen macht“ / „Im Zentrum: Eine 72-jährige Mutter und Großmutter.“ / „Der Mann, der wiederholt seine Frau betäubte und Fremde einlud, sie zu vergewaltigen, wurde zu 20 Jahren Haft verurteilt.“

Mit diesem Mann angeklagt sind 50 weitere Männer. Alle werden schuldig gesprochen. Es kommt zu großen Demonstrationen, denn für viele ist dieser Fall auch ein Beleg für die tief verankerte Bereitschaft, Frauen Gewalt anzutun. Die Philosophin Manon Garcia war als Beobachterin beim Prozess in Avignon dabei: „Besonders interessant an diesem Prozess war, dass man erkennen musste: Das Problem sind die Männer. Es tut mir leid, aber solange Männer sich nicht ändern, solange ihre Art zu begehren sich nicht ändert, und solange die Gesellschaft nicht aufhört, sie mit diesen Skripten des Verlangens zu prägen, die auf der Erniedrigung von Frauen basieren… Solange all das nicht aufhört, werden wir niemals Fortschritte sehen.“ Garcia sah die abscheulichen Vergewaltigungsvideos, die während der Verhandlungen auf Wunsch von Gisèle Pelicot gezeigt wurden. Und sie blickte den Angeklagten ins Gesicht, während ihre Anwälte sie verteidigten.

Die Angeklagten im Pelicot-Prozess: Jedermänner?

Erschüttert habe Garcia vor allem, wie normal die meisten dieser Männer waren. „Es ist leicht zu erkennen, dass Dominique Pelicot kein normaler Mann ist, denn er hat viele Verbrechen begangen. Aber was viel beunruhigender an diesem Prozess ist, sind die 50 anderen Männer. Denn die 50 anderen sind komplett normal.“ Auf der Anklagebank saßen keine „Monster“ oder „Teufel“, wie manche sie nannten. Sondern: ein Feuerwehrmann, ein Soldat, ein Journalist, Familienväter. Männer zwischen 26 und 74 Jahren. Was sagt es über Männlichkeit, wenn dutzende Durchschnittstypen in der Lage sind, eine fremde Frau zu vergewaltigen?

Und wie noch mit Männern leben, in einer solchen Welt, fragt Manon Garcia: „Manche sagen mir: ‚Du sagst ‘Männer‘, als ob alle Männer gleich schuldig wären. Aber ich hätte Gisèle Pelicot nie vergewaltigt!‘ Und natürlich sage ich nicht, dass jeder Mann das hätte tun können. Was ich aber sage, ist: Es gibt ein Kontinuum von dem, was selbst die nettesten Männer denken, begehren, sich wünschen oder tun – bis zu dem, was Gisèle Pelicot widerfahren ist. Und ich würde Männer gerne einladen, über dieses Kontinuum nachzudenken. Wie kann es sein, dass wir Frauen uns alle mit Gisèle Pelicot identifizieren – aber keiner von euch sich mit diesen Männern identifiziert? Da stimmt etwas nicht.“

Was trieb die Männer an, Gisèle Pelicot vergewaltigen?

Ja, es schmerzt, sich mit den grundsätzlichen Fragen auseinanderzusetzen, die dieser Prozess ans Licht brachte. Auch, weil sie mitten in unsere Leben zielen. Was Gisèle Pelicot passierte, geschah in ihrem eigenen Zuhause. An einem Ort, an dem sie sich sicher fühlte. Wie so viele Frauen. Doch statistisch ist es der unsicherste Ort für sie. Auch in Deutschland finden laut dem Bundeskriminalamt sexuelle Übergriffe an sedierten Frauen „überwiegend im familiären Umfeld oder im Bekanntenkreis statt.“ Und tatsächlich fühlten sich viele Frauen mit Gisèle Pelicot verbunden, meint Autorin Manon Garcia: „Die Tatsache, dass so viele von uns Frauen dachten: Das hätte ich sein können, oder meine Schwester, oder meine Mutter, zeigt, dass sexualisierte Gewalt ein soziales Problem ist.  Es schafft eine Welt, in der es in der Erfahrung einer jeden Frau diese allgegenwärtige Bedrohung durch sexualisierte Gewalt gibt."

Was ist es, das manche Männer dazu bringt, ihren Partnerinnen das anzutun? Was trieb die Männer an, die Gisèle Pelicot vergewaltigten? Mitschuld trage ein Männlichkeitsbild, das auf Dominanz, Macht und Kontrolle aufgebaut sei, sagt Manon Garcia. Und auf einem männlichen Glauben an ein Recht auf Sex – das im Zweifel sogar chemische Unterwerfung rechtfertige. Der Prozess habe gezeigt, wie fest diese Überzeugung noch immer in vielen Männern verankert sei: „Viele der Männer sagten im Prozess: ‚Meine Frau gab mir keinen Sex, deshalb habe ich Gisèle Pelicot vergewaltigt. Und als Dominique Pelicot gefragt wurde, warum er es getan hatte, da sagte er: ‚Am Ende des Tages ging es mir darum, eine nicht unterwürfige Frau zu unterwerfen.‘ Das bedeutet, er fühlt sich so berechtigt, von ihr sexuelle Dienste zu erhalten, dass er in dem Moment, in dem sie eine Grenze zieht und sagt ‚Ich will nicht mehr‘, sie unter Drogen setzt und es trotzdem tut. Und ich glaube, viele von uns haben dieses Gefühl, wenn es um männliche Sexualität geht: Was, wenn wir Nein sagen?“

„Es ist ein Problem der gesamten Gesellschaft“

Natürlich gebe es inzwischen auch andere, diversere Formen von männlicher Sexualität, sagt Garcia. Doch das hegemoniale Männlichkeitsbild sei noch immer von weiblicher Unterwerfung abhängig. Auch, weil das vielen Männern ihr Leben lang kulturell vermittelt werde: „Wenn du aufwächst mit Songs, die Frauen als sexuelle Objekte abwerten, wenn du Mainstream-Pornos schaust, in denen Frauen konstant degradiert werden, dann lernst du, so zu begehren. Was ich damit sagen will, ist: Das werden wir nicht allein in Gerichten lösen können. Es ist ein Problem der gesamten Gesellschaft.“

Was Manon Garcia beschreibt, ist eine Kultur, die Vergewaltigung immer wieder verharmlost, vertuscht und damit ermöglicht. Sie will, dass wir sexualisierte Gewalt als politisches Problem verstehen, dass strukturell männlich ist: „Wir wissen, dass nicht alle Männer Frauen vergewaltigen und dass nicht alle Männer ihre Partnerinnen betäuben. Aber wenn man sich das bestehende Kontinuum nicht bewusst macht, und nie fragt, woher es kommt, dann werden wir nie genug sozialen Wandel haben, der dazu führt, dass das aufhört.“ Die Scham muss die Seite wechseln, forderte Gisèle Pelicot. Es wäre ein Anfang.



Bericht: Jella Mehringer

Manon Garcia: „Mit Männern leben: Überlegungen zum Pelicot-Prozess“, Suhrkamp Verlag, 195 Seiten, 20 Euro, Veröffentlichung 15.09.25

Stand: 14.09.2025 20:00 Uhr

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