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Der lange Schatten des Krieges

„ttt“ spricht mit Schriftstellern über die Eskalation in Nahost und die Diskussion auf der Messe

PlayCollage Flagge Israels und Palästina
Schriftsteller über die Eskalation in Nahost | Video verfügbar bis 22.10.2024 | Bild: picture alliance / Chromorange / Christian Ohde

Der weltweite Schock über den Terror und die Toten in Israel ist groß. Auch auf der Messe. Es ist das bestimmende Thema hier.

„Ich habe das Gefühl, dass ich meine Identität, mein Bild von mir selbst und mein Land verloren habe, dass ich nicht mehr sicher bin", sagt Lizzie Doron. Sie ist gerade aus Tel Aviv gekommen. Mehrere Tage saß sie im Schutzraum ihres Hauses fest. Ihre Bücher erzählen von Begegnungen auf israelischer und palästinensischer Seite.

Meron Mendel hat Israel vor zwanzig Jahren verlassen. Sein Bruder wurde als Reservist eingezogen. Schulfreunde von ihm wurden ermordet. Er ist mit den Gedanken ständig in Israel. „Ich verspüre keine Angst. Die anderen Gefühle, die ich gerade habe, das sind die tiefe Trauer, das Entsetzen, das Verzweifeln, sind viel, viel stärker.“

„Ich fühle mich total überrollt von diesen Geschehnissen. Ich bin entsetzt.”

Joana Osman hat Familie und Freunde in Israel und Gaza. Die deutsch-palästinensische Autorin hat die Friedensbewegung „The Peace Factory“ mitbegründet, bei der sich Menschen beider Seiten begegnen können. Frieden – er scheint gerade ferner denn je. „Ich habe hier meinen Alltag ganz normal und gleichzeitig explodiert da gerade die Welt. Ich fühle mich hilflos“, sagt Joana Osman. „Ich fühle mich total überrollt von diesen Geschehnissen. Ich bin entsetzt.”

Krieg in Nahost – die Buchmesse erklärte sich noch vor dem Start solidarisch mit Israel, ergänzte kurzfristig Veranstaltungen mit israelischen und jüdischen Stimmen. Dafür erntete sie auch Kritik: Die Buchmesse sei zu einseitig, schließe palästinensische Stimmen aus. Juergen Boos, Direktor der Frankfurter Buchmesse, sagt: „Die Buchmesse hat sich eindeutig gegen den Terror positioniert und für die Menschlichkeit. Und ob das israelische Menschen betrifft, ob das jüdische Menschen betrifft oder palästinensische Menschen, Menschenleben ist gleich viel wert.“

Die Kritik entzündete sich auch daran, dass im Statement der Buchmesse palästinensische Stimmen nur am Rande Erwähnung finden. Seither tobt im Netz ein Shitstorm, es wird zum Boykott der Messe aufgerufen. Auch der Umgang mit der palästinensischen Autorin Adania Shibli wird viel kritisiert. Wegen des Krieges wurde die Preisverleihung für ihren Roman „Eine Nebensache“ verschoben. Manche Kritiker werfen ihr vor, ihr Buch bediene antisemitische und antiisraelische Narrative. Die Autorin selbst wollte sich nicht äußern, dafür aber Messechef und LitProm-Vorsitzender Juergen Boos.

Offener Brief kritisiert Verschiebung der Preisverleihung

„Die Autorin wollte gerne die Preisverleihung machen", sagt Juergen Boos. „Es war uns nur klar im Vorstand, dass es hier eine aufgeheizte Situation gibt und dass ich tatsächlich mit Diffamierungen rechnen muss, dass ich gegebenenfalls auch mit lautstark Protestierenden hier rechnen muss. Und um die Sicherheit herzustellen, war es mir wichtig zu sagen: Wir verschieben und lassen das nicht hier stattfinden.“

Manche sehen darin einen Ausschluss palästinensischer Stimmen. Als Zeichen des Protests blieben Stände von Verlegern aus der arabischen Welt leer und machten Platz für Bücher palästinensischer Autoren. Mehr als 1200 Literaturschaffende, darunter Literaturnobelpreisträger wie Abdulrazak Gurnah und Annie Ernaux, kritisierten in einem offenen Brief die Verschiebung der Preisverleihung.

Auch er kritisierte das. Der slowenische Star-Philosoph Slavoj Žižek sorgte dann für den Riesen-Eklat auf der Eröffnungsfeier: „Ich verurteile bedingungslos die Attacke der Hamas auf Israelis an der Grenze zu Gaza – ohne Wenn und Aber. Jedoch beobachte ich eine seltsame Sache: Sobald jemand die Notwendigkeit erwähnt, den komplexen Hintergrund der Situation zu analysieren, wird man automatisch beschuldigt, den Terror der Hamas zu unterstützen oder zu rechtfertigen.“

Eklat auf der Eröffnungsfeier

Slavoj Žižek hielt eine provokative Rede, in der er viel zur Situation der Palästinenser in Gaza, im Westjordanland sagte. „Wir müssen in dieser Situation auch die Millionen Palästinenser einbeziehen. Denn hier geht es nicht nur um Israel gegen Hamas. Noch mal: In dem Moment, in dem du dich damit abfindest, dass es nicht möglich sei, für beide Seiten gleichzeitig zu kämpfen, hast du deine Seele verloren.“

Die Eröffnungsfeier wird zum Politikum. Unruhe macht sich breit. Manche verlassen den Saal. Der hessische Antisemitismus-Beauftragte Uwe Becker unterbricht die Rede mehrfach, will sie abbrechen lassen. „Es ist eine Schande! An einem Tag, an dem Menschen ermordet und massakriert werden …“, ruft Uwe Becker, während Slavoj Žižek unterbricht: „Wo? Auch in Gaza?“ und Uwe Becker weiterspricht: „ … beide Seiten zu vergleichen und zu relativieren, was passiert ist!“ Slavoj Žižeks Antwort darauf: „Ich relativiere nicht! Es war ein grauenvolles Verbrechen! Ich relativiere es in keiner Weise!“

„Es ist die Freiheit des Wortes. Und die müssen wir hier stehen lassen. Das ist mir wichtig“, sagt Juergen Boos.

Polizei und Sicherheitskräfte bei Slavoj Žižek Auftritten

Nach dem Eklat tagelang hitzige Diskussionen. Bei Žižeks Auftritten sind Polizei und Sicherheitskräfte vor Ort. Verachtung schlägt ihm entgegen, aber von anderer Seite auch große Verehrung. Žižek zeigt sich überrascht von dem Tumult, er bleibt dabei ohne Analyse keine Lösung des Konflikts.

„Die Bedrohung Hamas muss vernichtet werden. Wenn wir aber künftig Attacken wie diese wirklich verhindern wollen, müssen wir den Palästinensern zumindest einen realistischen Plan geben. Sonst werden die Spannungen doch immer weiter anhalten. Das Ergebnis dieses Krieges ist – und das bringt mich nahezu zum Weinen – dass auf beiden Seiten die radikalen Hardliner erstarken.“

Ist jetzt der richtige Zeitpunkt für solch eine Analyse? Und: Ist eine Eröffnungsfeier dafür der richtige Rahmen? Fragen wie diese dominieren seither viele Gespräche.

„Es sollte keine politische Rede sein, es sollte eine Rede für das Gastland Slowenien“, sagt Meron Mendel. „Es gibt diejenigen, die ihre Menschlichkeit ablegen, indem sie Mördern und es gibt die Menschen, die ihre Menschlichkeit ablegen, indem sie relativieren, indem sie wegschauen, indem sie das nicht mal anerkennen, dass gerade nach solche Momente Zeit gebraucht wird, dieser heilige Moment der Stille, der Innehalten.”

Welcher Ort für die Analyse – und wann?

„Es ist wie nach einem großen Autounfall, wir sehen, dass wir bluten und fragen uns, wie können wir unsere Wunden heilen? In diesem Moment können wir nicht auf andere hören“, sagt Lizzie Doron. „Ich habe viel über Lösungen im Mittleren Osten gesprochen, aber jetzt muss ich neu darüber nachdenken. Ich weiß nicht, was ich sagen soll, ich bin sprachlos.“

Žižek sagt: All seine Argumente würden auch in den westlichen Leitmedien längst diskutiert. Deshalb müsse doch gerade eine Messe wie diese ein Ort sein, so etwas sagen zu können. „Jetzt ist der Moment, darüber zu sprechen! Sorry, aber mein „Aber“ war in keiner Weise relativierend! Ich lehne ausdrücklich die Idee ab, wir sollten die Hamas verstehen. Trotzdem müssen wir doch auch analysieren, wie Hitler möglich wurde – aber das heißt doch nicht: „verstehen“! Ich würde sogar soweit gehen, zu sagen: Erst, indem wir die Hintergründe analysieren, können wir das wahrhaft Böse erkennen!“

Meron Mendel setzt sich seit langem für Verständigung zwischen Israelis und Palästinensern ein. Der 7. Oktober aber ist für ihn eine Zäsur. Was ihm gerade fehlt, ist mehr Sensibilität. „Nach dem Mord der russischen Armee an Zivilisten in der Stadt Butscha in der Ukraine wurde auch nicht groß analysiert, sondern erst mal das Mindestmaß an Menschlichkeit aufzubringen und zu sagen, das steht für sich und es gibt keine Entschuldigung für solche brutale Morde. Für diese Barbarei gibt es keine Entschuldigung, es gibt kein Kontextualisieren, es gibt keine Analyse im Sinne von einer Rechtfertigung, von Erklären.”

Offener Antisemitismus und Beschimpfungen in Deutschland

Neben dem Krieg in Nahost beschäftigen ihn auch die Bilder aus Deutschland: Eine Mahnwache nach einem Anschlag auf eine Synagoge in Berlin, auf deutschen Straßen offener Antisemitismus und Beschimpfungen. Proteste für die palästinensische Zivilbevölkerung, teilweise aber auch voller Gewalt und Judenhass.  

„Was müssen wir tun, damit Menschen verstehen, dass es in einem Krieg keine Gewinner gibt? Jeder zahlt einen unglaublichen Preis. Der Krieg besiegt Menschlichkeit und in diesem Moment habe ich nur Fragen“, sagt Lizzie Doron.

Das Zersetzende des Krieges, es sickert auch in unsere Debatten und in unseren Alltag ein.

„Hinter dieser sehr theoretischen Metaebene“, sagt die deutsch-palästinensische Autorin Joana Osman, „von der aus wir den Konflikt von außen betrachten, ist es leicht zu vergessen, dass richtige, echte Menschen mit einer Biografie, mit einer Geschichte, mit einem Gesicht, mit einer Familie, mit Wünschen, Träumen, Hoffnungen, Ängsten da Opfer sind.“


Beitrag: Katja Deiß und Celine Schäfer

Stand: 22.10.2023 20:12 Uhr

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