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Frankreich: "Die erneuerte Stadt" – wie sich Roubaix selbst vor dem Untergang rettet

PlayEin Frau arbeitet mit Stoffen, im Vordergrund eine Schere.
Frankreich: "Die erneuerte Stadt" – wie sich Roubaix selbst vor dem Untergang rettet | Bild: NDR

Es läuft schon ganz gut. Dabei hat Manon Ledoux erst im Oktober angefangen. Unter den wachsamen Augen von Schneidermeister Roberto. Manon ist eine seiner ersten Schülerinnen. Sie ist 17 Jahre alt. Mehr als 70 Bewerbungen hatte sie geschrieben, vergeblich. In der Textilschule von Roubaix hat sie endlich ihre Chance bekommen. "Ich hatte die Schule beendet und wusste nicht, was ich machen soll. Ich habe gesucht, sogar im Hundesalon – nichts. Da hörte ich von dieser Schule, es ist toll hier."

Lernen unter Realbedingungen

Die Schule ist ganz neu – und besonders: für Schulabbrecher, junge Menschen mit Startschwierigkeiten. Sie lernen das Handwerk an 14 verschiedene Maschinentypen, dazu Mathe, Geschichte, Französisch. Schneidermeister und Lehrer Roberto Inglesi bringt 50 Jahre Berufserfahrung mit, aus Modeateliers der ganzen Welt: "Wir haben diese Schule aufgebaut, wie ein richtiges Atelier. Die Schülerinnen lernen hier unter Realbedingungen, mit richtigen Aufträgen und echten Kunden."

Roubaix war mal das Zentrum der französischen Textilindustrie. Vergangenheit. Mit der Billig-Mode aus Asien kam der Niedergang. In dieser alten Fabrik ist jetzt die Schule von Manon, und: Es entsteht noch viel mehr: Textildruckerei und viele neue Ateliers. Manon Ledoux will Teil des Aufbruchs sein. Ihre Ziele: "Weiter mit der Schneiderei, weiter lernen, alles was man dort entdecken kann, selber Dinge entwerfen und dann ein eigenen Blog machen!"

Roubaix ist in Bewegung

Art-Deco-Schwimmbad mit Ausstellungsstücken.
Das frühere Art-Deco-Schwimmbad Roubaixs ist heute eines der berühmtesten Museen Frankreichs. | Bild: NDR

In Roubaix ist inzwischen vieles in Bewegung, neue Perspektiven entstehen. Die alten Arbeiterviertel, werden wieder lebendig. Verfall und Glanz existieren nebeneinander. Früher war die Stadt reich und wohlhabend, doch das ist vorbei. Noch dominieren Armut und Arbeitslosigkeit in Roubaix. Frédéric Minard will das ändern. Er arbeitet für die Stadt und er hat Pläne: "Die Idee ist, diese Vorzüge hier zu erhalten: die Gebäude, diese Architektur – aber sie anzupassen an die Erfordernisse einer modernen, innovativen Textil-Wirtschaft. Außerdem gibt es hier noch immer die Kompetenzen und Fähigkeit, die für Unternehmer interessant sind: eine Ingenieurschule, eine Modehochschule, dazu ein Museum mit einer phantastischen Sammlung."

In der ehemaligen Badeanstalt von Roubaix präsentiert sich der ganze Stolz und die Geschichte der Stadt: Ein Beispiel für gelungene Transformation. Das frühere Art-Deco-Schwimmbad ist heute eines der berühmtesten Museen Frankreichs. "Das war natürlich eine verrückte Idee. Aber sie kommt großartig an: die Leute erinnern sich, wie sie hier vor 40 Jahren schwimmen gelernt haben und zugleich entdecken sie all das", sagt Frédéric Minard.

Hochschule für Mode und Design zieht junge Leute an

Studentinnen und Studenten im Gespräch.
Die Hochschule für Mode und Design zieht junge Leute an. | Bild: NDR

Und das ist attraktiv auch für junge Leute: die Hochschule für Mode und Design. Sie hat einen Namen weit über Roubaix hinaus: mutige Mode, moderne Techniken, Nachhaltigkeit lernen die Absolvent*innen hier. Und das ist auch für die Industrie interessant. Die großen Marken haben den Trend längst erkannt – kommen zurück nach Frankreich, um hier zur produzieren und setzen auf heimisches Know-how.
"Roubaix ist nicht tot, ganz im Gegenteil! Das erlebe ich hier. Die Industrie muss hier wieder Akteur werden. Das ist unsere Verantwortung als großes Unternehmen. Wir müssen den Wandel begleiten und mitgestalten", sagt Kreativdirektor Bertrand Morange vom "Jules".

Ein Blick in die Zukunft. Hier ist das schon Realität. 120 Näherinnen  arbeiten in ener alten Backsteinhalle. Eine "Pop-up-Fabrik" – aus dem Stand gegründet, mitten in der Corona-Krise. Fast alle kommen aus der Branche. Viele waren zuvor arbeitslos, so wie Marie Gimenez. Sie hat Schneiderin gelernt, Kinder großgezogen. Hier verdient sie wieder eigenes Geld. Mindestlohn, aber immerhin. Sie mag die Atmosphäre und die neuen Kolleginnen in der Fabrik: "Es gibt hier die Mütter mit den Kopftüchern, die niemals gearbeitet haben. Die kommen her, die lernen an den Maschinen. Und sie sind glücklich, denn sie haben ein Einkommen, sie sind unabhängig – und dann man spürt man: Die Stadt lebt und atmet wieder!" Frischer Wind in alten Gemäuern! Es ist noch alles da, um Roubaix neues Leben einzuhauchen.

Textilberufe kehren zurück nach Roubaix

Einige Straßen weiter herrscht Hochbetrieb in der Bar bei den "Drei Strickern". Am Tresen gibt es ein Getränk – und ein paar Socken gleich nebenan. Manon will die Schwarzen und darf mit ins Atelier. Hier läuft eine Maschine: ein Paar Socken aus recycelter Baumwolle in 20 Minuten. Beim Bier kann man nachhaltige Produktion beobachten. "Gerade kehren alle Textilberufe zurück nach Roubaix – genial!", sagt Manon. Bar und Strick-Atelier laufen. Mit neuen Ideen für eine alte Industrie – so kann Roubaix eine Zukunft haben.

 Autorin: Sabine Rau, ARD-Studio Paris  

Stand: 10.01.2022 11:01 Uhr

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