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Spanien: Warum die Pandemie das Land so hart trifft

PlayEin Mann im Schutzanzug desinfiziert Straßen.
Spanien: Warum die Pandemie das Land so hart trifft | Bild: NDR

Noch ist Spanien in der Sommerpause, aber die Anzeichen mehren sich, dass die Pandemie das Land schon bald wieder im Würgegriff hält. Die Fallzahlen steigen weiter an.
In Cantalejo, anderthalb Autostunden nördlich von Madrid, zeigt sich womöglich heute schon, wohin Spanien wieder steuert. Ohne Polizeikontrolle kommt keiner rein und keiner raus. Den Einwohnern wird geraten, zu Hause zu bleiben. Ein einsames Desinfektionsfahrzeug zieht durch die Straßen. Unter den staunenden Augen der Anwohner, die noch nicht so ganz fassen können, dass es jetzt auch sie getroffen hat; "Mir war überhaupt nicht klar, dass es hier so viele Infektionen gibt. Und plötzlich haben sie uns abgeriegelt." "Das Wetter ist gut, die Leute wollten nach dem harten Lockdown wieder raus. Und jetzt geht alles von vorne los." "Das ist einfach unser Lebensstil. Wir sind gerne draußen, mit andern zusammen, in großen Gruppen. Das ist es."

Distanz fällt schwer

"Gesellige Spanier" – das klingt nach Klischee. Eine Studie legt allerdings nahe, dass kulturelle Faktoren tatsächlich eine Rolle spielen. Keine Küsschen, keine Umarmungen – daran muss überall erinnert werden. Das mit der Distanz fällt einfach schwer. Und der Kontakt in den Familien, zwischen Jungen und Alten, ist eng.

Zwei Frauen sitzen in einem Raum.
Angélica Coria (li.) betreut ihre 96 Jahre alte Mutter seit Monaten zu Hause. | Bild: NDR

Angélica Coria hat ihre Mutter aus dem Heim zu sich nach Hause geholt – Anfang März, gerade noch rechtzeitig vor der Ausgangssperre. Seitdem pflegt sie die 96-Jährige. Eine Freundin springt ein, wenn sie mal zum Einkaufen raus muss. Im Heim wollten sie die Verantwortung damals nicht übernehmen: "Dort haben sie mir gesagt: 'Es ist natürlich deine Entscheidung. Aber überlege es dir gut. Wir wollen am Ende nicht verantwortlich sein, wenn du sie zurückbringst, und dann passiert doch etwas'", erinnert sich Angélica Coria.

Fast 20.000 Menschen, wird geschätzt, sind in spanischen Pflegeeinrichtungen an Covid-19 gestorben. Angélica ist erleichtert, dass sie im Heim ihrer Mutter so ehrlich waren. Statt Unterstützung bekommt sie jetzt aber Druck von den Behörden. Sie muss die Mutter ins Heim zurückbringen. Das ist Vorschrift, sonst verliert sie ihren Platz. "Mit diesen Wiederausbrüchen in den Heimen – meine Mutter ist doch Risikopatientin! Sie wäre die Erste, die umkommt!", sagt Angélica Coria.

Neuinfektionen in Arbeitervierteln

Ein Schild mit der mehrfachen Aufschrift Distancia
Keine Küsschen, keine Umarmungen – daran muss überall erinnert werden. | Bild: NDR

In Madrid ziehen mittlerweile täglich Test-Trupps herum. Vor allem in den Arbeitervierteln. Dort gibt es die meisten Neuinfektionen. Die Menschen leben eng zusammen, und kaum jemand kann von zu Hause aus arbeiten. Immerhin – jetzt wird getestet. Aber zu wenig und zu spät, kritisieren Mediziner. So könne Spanien die Wiederausbrüche nicht in den Griff kriegen. "Wir müssten viel mehr tun, als im Moment geschieht. Wir brauchen mehr Leute, damit wir Infektionen zurückverfolgen und Infizierte in Quarantäne schicken können. Und wir brauchen den politischen Willen, damit solche Maßnahmen zum Normalfall werden", sagt Quique Bassat vom Hospital Sant Joan de Déu in Barcelona.

Wie die "Neue Normalität" in Spanien aussehen soll, weiß keiner so recht. In den nächsten Wochen beginnt für acht Millionen Kinder die Schule. Familie Pérez hat vier – zwei Mädchen und zwei Jungen. Die freuen sich schon seit Wochen darauf, dass es nach einem halben Jahr endlich wieder losgeht.

Rückkehr in den Alltag ist eine Rückkehr auf Abruf

Familie mit vier Kindern.
Familie Pérez fühlt sich alleingelassen. | Bild: NDR

Vielen Eltern machen die steigenden Infektionszahlen Sorgen. Einige haben schon gedroht, ihre Kinder zu Hause zu behalten, wenn die Lage sich nicht bessert. Für Familie Pérez kommt das nicht in Frage: "Kinder sind es nicht gewohnt, von zu Hause aus zu arbeiten. Außerdem: wir haben ja vier. Wir müssten dann jetzt auch für die Kleinen Notebooks oder Tablets anschaffen. Dafür fehlt uns das Geld. Und sie brauchen in dem Alter auch ihre Freunde", sagt César Pérez.

Also: zurück in die Schule. Aber wie? Kriegen die Kinder Mittagessen? Können sie wie gewohnt bis drei Uhr bleiben? Eltern, die arbeiten, müssen so was wissen. Allmählich reißt César Pérez der Geduldsfaden: "Wir sind seit Monaten auf uns allein gestellt. Sie haben einfach die Zeit nicht genutzt, um ihre Arbeit zu machen und die Leute im Stich gelassen."

César und seine Frau wissen, dass Schulen ab zwei, drei Infektionsfällen sofort wieder geschlossen werden. Es geht ihnen so wie Millionen anderer Spanier auch: Ihre Rückkehr in den Alltag ist eine Rückkehr auf Abruf.

Autorin: Natalia Bachmayer, ARD Madrid

Stand: 30.08.2020 20:18 Uhr

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